Fürsorgepädagogik und paternalistische Expertokratie

In der Geschichte des beruflichen Helfens herrschte über Jahrhunderte hin weg eine barmherzige oder eine korrigierend kontrollierende Haltung vor (vgl. Müller 2013): Fürsorge diente in erster Linie dazu, die gesellschaftlichen Strukturen stabil zu halten und Sonderlinge zur Anpassung zu zwingen. Wer sich nicht fügte, wurde von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu eröffnen, war weder erwünscht noch vorgesehen. Sie hatten kaum Einfluss auf Entscheidungen und sollten dankbar sein, dass ihnen geholfen wird. Diese Art der Hilfe und Bevormundung verschlimmerte die Abhängigkeit der Hilfebedürftigen von staatlicher Unterstützung und verstärkte das Gefühl von Hilflosigkeit. Auch heute noch stoßen Menschen, die Unterstützung suchen, oft auf Bevormundung: „Ein Obdachloser sollte sein erbetteltes Geld für Essen ausgeben, nicht für Bier und Zigaretten! Wozu braucht eine Sozialhilfeempfängerin einen Internetzugang?“

Die modernere Nachfolgerin der kontrollierenden Fürsorgepädagogik ist die paternalistische Expertokratie. Ihr entspricht die Auffassung, dass eine Fachkraft aufgrund ihrer Qualifikation besser als die Betroffenen weiß, was gut für sie ist. So erscheint es bspw. legitim, die Selbstbestimmung von Adressatinnen und Adressaten zu beschneiden, solange es deren Wohlergehen dient. Die paternalistischex pertokratische Haltung ist in der Praxis sozialer Berufe noch weitverbreitet und widerspricht dem partizipativen Professionsverständnis: Denn hier sind die Adressatinnen und Adressaten Expertinnen und Experten in eigener Sache, die selbst am besten wissen, was hilfreich für sie ist. Ihre Lebensweltexpertise (weitere Informationen zu Lebensweltexpertise auf Seite 25) wird als ebenso wichtig erachtet wie das Fachwissen der Professionellen.

► Gaby Straßburger, Judith Rieger: Partizipation Kompakt (2014)

Gaby Straßburger, Judith Rieger   |   Tags: community