Eine Beziehung aufbauen

Eine Beziehung aufbauen

Das Aufbauen und Pflegen von zwischenmenschlichen Beziehungen ist, glauben wir, wohl das komplizierteste, was wir uns in unserem Leben vorstellen können. Zwei Fähigkeiten, über die Betroffene in dieser Hinsicht oft nicht verfügen, sind: sich in Gesellschaft von anderen zu entspannen und ihre Welt mit anderen zu teilen. Diese Fähigkeiten kann man natürlich am besten entwickeln, indem man es ausprobiert, immer wieder, und nicht, indem man nur darüber denkt und redet. Deswegen wäre es für diese Aktivitäten auch sinnvoll, sie in einer Gruppe zu machen. Denn die Beziehung zu den Therapeuten ist in diesem Fall ein sehr beschränktes Übungsfeld. Außerdem haben auch diese Beziehungen immer mit einem Machtgefälle zu tun. Auch wenn die Therapeuten noch so freundlich und einfühlsam sind, sie stehen auf der anderen Seite. In einer Gruppe entwickeln wir dann verschiedene Entspannungsübungen. Dabei geht es nicht nur um Aktivitäten, bei denen alle Gruppenmitglieder sich gleichzeitig entspannen, zum Beispiel mit geleiteten Phantasien. Diese sind zwar wichtig, um überhaupt die Fähigkeit sich zu entspannen zu lernen, hier liegt aber nicht der Grund des Problems. Es ist vielmehr die fehlende Fähigkeit, in Situationen mit anderen Menschen gelassen zu bleiben. Sich nicht sofort bedroht, angesprochen, verantwortlich zu fühlen, sich zurückziehen zu müssen und so weiter. Entspannen bedeutet hier dann auch nicht so etwas wie: Augen zu und abschalten, sondern sogar Augen auf und wahrnehmen. Betrachten ohne mitgezogen zu werden.

Sowohl das Entspannen in Gesellschaft, wie das Teilen seiner Welt sind Erfahrungen, die am eindringlichsten sind, wenn sie körperlich erlebt werden können. Obwohl Teilen seiner Welt sehr viel damit zu tun hat, sich ›mit-teilen‹ zu können, beginnen wir aber erst mit einem wirklichen Teilen. Das bedeutet, dass wir Aktivitäten entwickeln, worin Klientinnen etwas herstellen, das sie anschließend mit einem Gruppenmitglied teilen können. Dabei ist nicht so sehr interessant, ob sie wirklich ihren Gegenstand, ihre Objekte teilen, sondern vielmehr, was sie dabei erleben, wenn sie das Teilen ausprobieren sollen: Möchten sie es teilen? Ruft das Ängste hervor? Interessiert der andere sich dafür?

Auf diese Weise kommen wir zu den folgenden Erfahrungsschritten der menschlichen Beziehung:

Wahrnehmen

Die erste Phase von Kontakt ist die des Wahrnehmens. Zuerst in der Distanz: sehen, riechen, hören. Diese Wahrnehmung üben wir zuerst mit Gegenständen, Räumen und in der Natur. Wir stellen dazu folgende drei Fragen:

  • »Kannst du beschreiben was du wahrnimmst?« (Dies soll eine reine Wahrnehmungsbeschreibung sein, ohne Interpretationen, ohne Gefühle, zum Beispiel die Blume hat scharfe hellgrüne Blätter und eine Blüte. Die Blüte ist an den Rändern weiß und nach innen hin rot. Sie hängt ein wenig.)

  • »Was löst diese Wahrnehmung in dir aus?« (Zum Beispiel Erinnerungen: »Ich habe früher oft Blumen gepflückt, mit meiner Freundin, das war eine schöne Zeit.«)

  • »Was ist dein Impuls, was möchtest du machen?« (»Ich möchte dort hingehen, sie riechen, ihr Wasser geben.«)

Wir beginnen mit der Wahrnehmung von Gegenständen, weil damit kein Dialog, kein Erwartungsmuster entsteht. Außerdem ist die persönliche Betroffenheit bei der Wahrnehmung von Gegenständen durchschnittlich geringer als bei der Wahrnehmung von Menschen.

Das führt dazu, dass die Wahrnehmung als solche besser geübt werden kann.

Der nächste Schritt ist also, sich einen Partner auszusuchen, zueinander auf Distanz zu gehen, einander wahrzunehmen und die drei gleichen Fragen zu beantworten. Mit diesen Aktivitäten versuchen wir Betroffenen die Möglichkeit zu bieten, die oft fehlende Verbindung zwischen Wissen und Fühlen und zwischen Fühlen und Aussprechen wiederherzustellen. Wichtig ist dann auch vor allem, ihre Wahrnehmung nicht für sich zu behalten, sondern dem anderen mitzuteilen. Damit können sie die Erfahrung machen, dass Menschen nicht nur Rätsel und unberechenbar sind, sondern dass man auch gemeinsam eine wohltuende Transparenz aufbauen kann.

Aufeinander zugehen

Der nächste Schritt im Kontakt: Jetzt erhalten die Partner die Möglichkeit aufeinander zuzugehen, ohne aber dabei einander zu berühren. Wichtig ist, es langsam zu machen, damit Veränderungen bei sich selbst und den anderen auch klar wahrgenommen und gespürt werden können. Bei dieser Bewegung aufeinander zu werden auch wieder die gleichen drei Fragen wie in der ersten Phase gut wahrnehmbar für den Partner beantwortet.

Kontakt herstellen

Die Partner haben sich einander genähert und ihren Annäherungsprozess beschrieben. Jetzt können die Partner Körperkontakt miteinander aufnehmen und ausprobieren, wie weit sie den Kontakt wünschen, wieviel Kontakt und womit sie sich berühren möchten, und sie können ihre Nähe und Distanz bestimmen. Wichtig dabei ist auch, inwieweit sie selbst bestimmen können, in welchem Ausmaß sie bestimmt werden und sich bestimmen lassen. Das wird zum Beispiel dadurch klar, indem sie sich fragen, an welchen Körperstellen sie den anderen berühren möchten, an welchen Stellen sie selbst berührt werden möchten und an welchen Stellen nicht.

Wie reagiert die Klientin, wenn sie gegen ihren Willen an dieser Stelle doch berührt wird. Hier kann ein Spiel mit den persönlichen körperlichen Grenzen entstehen, wobei die Klientin sich darüber klarwerden kann, wie sie bis jetzt mit ihrer Grenze umgegangen ist und wie sie das jetzt erlebt. Will sie Grenzen früher ziehen, Grenzen erweitern, fühlt sie ihre Grenze respektiert, wie geht sie mit den Grenzen des anderen um.

Kontakt intensivieren und pflegen

Die bisherigen Aktivitäten können wir in der Therapiesitzung gut ausprobieren, erfahren, wahrnehmen. Sie haben auch einen hohen Realitätsgehalt. Bei diesem Schritt, Kontakt zu intensivieren und zu pflegen, wird das aber schwierig. Wir können uns da der Realität nur annähern, weil das Problem der Intensivierung des Kontaktes meistens mit Zeit verbunden ist. Es geht oft darum: »Kann ich soviel Nähe aushalten, ohne mich gefangen zu fühlen, ohne Ansprüche zu spüren, die ich nicht beantworten kann?« oder »Wenn das alles so schön ist, wie ich es mir immer gewünscht habe, kann ich es plötzlich nicht mehr aushalten und muss aus dieser Beziehung heraus. Ich breche sie plötzlich ab, obwohl ich sie so gerne länger behalten möchte.«»Es ist kaum auszuhalten, nach so vielen Jahren zu spüren, dass ich wirklich liebenswert bin. Ich kann das dann nicht glauben. Mein Zweifel und Mißtrauen ergreift plötzlich Besitz von mir.« »Ich bin gerne schön, werde gern schön empfunden, kann es aber sehr schlecht aushalten, wenn jemand es mir sagt.« Diesem Zeitfaktor können wir uns in der Therapie nur minimal annähern. Wir können Klientinnen helfen, indem sie ihre grundsätzlichen Fähigkeiten zu einer Beziehungspflege erfahren, sie wertschätzen lernen und indem wir sie in diesem realen Prozeß so viel wie möglich begleiten. Wir haben erfahren, dass die zentrale unterstützende Fähigkeit die der deutlichen Kommunikation ist: Mitteilen von Wahrnehmungen, Gefühlen und Impulsen, damit jeder der Partner für den anderen transparenter und eindeutiger in seinem Verhalten wird. Denn gerade Zweideutigkeit verursacht bei Betroffenen Panik.

Wir bitten die Partner, ihren Körperkontakt zu intensivieren, nicht nur räumlich (mehr Körperkontakt herstellen), sondern auch zeitlich (länger aushalten von bestimmten Kontakten). Als sehr schwierig, manchmal bedrohlich wird der Zeitfaktor erfahren, wenn wir Partner bitten, sich einander gegenüberzusetzen, die Hände festzuhalten und sich in die Augen zu schauen. Denn in den Augen bekommen wir alles mit und zeigen alles von uns, was unsere Persönlichkeit ausmacht. Unsere Ausstrahlung, unsere Sicherheit, unsere Unruhe, unsere Ängste, unsere Erschöpfung, unsere Freude: all dieses zeigt sich in den Augen, wenn wir sie wahrnehmen wollen. Eine wesentliche Beziehung zwischen Menschen fordert von beiden Partnern die Bewegung aufeinander zu und das Füreinander-verfügbar-Sein, das Interesse-aneinander-Haben. Der Zeitfaktor wird am besten erfahrbar, wenn die Partner während dieser Aktivität schweigen. Erst danach werden die drei Fragen besprochen.

Sich verabschieden

Wir bitten die Partner, sich voneinander zu verabschieden und dabei den Körperkontakt abzuschließen. Anschließend werden auch hier die drei Fragen wieder besprochen.

Eine der häufigsten Störungen in zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Unfähigkeit mit Abschied umzugehen. Hier sind Betroffene keine Ausnahme, obwohl es bei ihnen oft ausgeprägt ist. Das Sich-nicht-Verabschieden ist ein allgemein gesellschaftliches Problem. Durchschnittlich fehlt die Zeit, die Ruhe und das Interesse dafür, oder besser gesagt, man will sie sich dafür nicht nehmen, wahrscheinlich weil Abschied zu viele Gefühle hervorruft, mit denen man schlecht umgehen kann. In Missbrauchssituationen findet fast nie ein Abschied statt. Es sind Situationen, die plötzlich beginnen und plötzlich aufhören. Die Betroffene denkt nicht an Abschied-nehmen, sondern an Flüchten: weg, weg, weg. Es scheint, dass sich hieraus ein Muster entwickelt, dass sich in vielen Beziehungen durchsetzt: Wegrennen, und damit ist es abgebrochen. Eine abgebrochene Beziehung ist aber keine abgeschlossene Beziehung. Sie wirkt unruhig in einem nach. Wenn eine Beziehung abgeschlossen ist, kann man ihr nachtrauern, aber sie hat uns nicht mehr so im Griff. Wir können sie oft schweren Herzens beiseite legen. Es ist klar und deutlich, und damit bist du frei für etwas Neues. Wenn eine Beziehung aber nicht abgeschlossen wird, sondern abgebrochen, wirkt sie in einem nach. Die unverdauten Reste schleppen wir in uns mit. Wir stellen uns das so vor, dass jede abgebrochene Beziehung in unseren Händen liegt, ohne dass wir sie weglegen können. Mit jeder neuen abgebrochenen Beziehung werden die Hände voller. Und wenn beide Hände voll sind, ist es sehr schwierig, einem anderen Menschen seine Hand zu reichen.

► Thijs Besems, Gerry van Vugt: Wo Worte nicht reichen (1990)

Gerry van Vugt, Thijs Besems   |   Tags: soziales