Wo Worte nicht reichen

Es ist selten hilfreich, wenn der andere die eigene Traurigkeit übernimmt, wenn er ‘mitfließt’ und selbst traurig wird; noch weniger hilft es, in seiner Traurigkeit zurückgewiesen zu werden. Entscheidend ist dagegen, dass es einen anderen Menschen gibt, der einen stützt und der vermitteln kann, dass die Traurigkeit richtig ist und sie auch bei ihm gezeigt werden kann. Mehr braucht dieser Mensch eigentlich nicht zu tun, vor allem soll er nicht versuchen, demjenigen, der traurig ist, seine Traurigkeit zu nehmen.

Ein wichtiges Prinzip im Umgang mit einem traurigen Menschen ist also, diesen darin zu unterstützen, dass er seine Verletzung durcharbeitet, und nicht, ihm seine Traurigkeit nehmen zu wollen. […]

Wenn ein Mensch eine ihm zugefügte Verletzung verarbeitet hat, indem er seine Traurigkeit ausdrücken konnte und darin auch von anderen Menschen angenommen wurde, dann ist damit in den meisten Fällen die Verletzung aufgearbeitet. Wenn nicht, sucht sie sich einen anderen Weg. Das störende Gefühl wird zu Ärger.

Ärger ist ein psychisches Unwohlsein, das wir meistens äußern, indem wir schimpfen, schreien, fluchen und/oder heftige Bewegungen machen. Auch auf dieses Verhalten reagiert die Umwelt selten so, wie wir es für angemessen halten. Wenn ein Kind seinen Ärger durch lautes Schreien ausdrückt, erleben wir selten, dass Erwachsene das Kind positiv unterstützend auffordern, noch lauter und noch mehr zu schreien, seinem Ärger noch mehr Luft zu machen. Meistens soll die Reaktion darauf bewirken, dass dieses Gefühl so schnell wie möglich unterdrückt wird. […]

Wenn Menschen ihren Ärger nicht mitteilen können oder dies von den Menschen um sie herum nicht akzeptiert wird, wirkt das Gefühl der Verletzung weiter und sucht sich einen anderen Weg, um sich auszudrücken. Es wird zu Wut.

Wut ist ein körperliches Unwohlsein. Das psychische Gefühl des Ärgers bekommt in der Wut eine körperliche Dimension: Es wird ausgedrückt. Kennzeichnend für Wut ist denn auch vor allem, dass dieses Gefühl “heraus” muss, und zwar meistens explosionsartig und nicht zielgerichtet. Wut ist nach außen gerichtet und wird ausgetragen mit den Möglichkeiten, die sich in dem jeweiligen Moment zufällig bieten: die Türen zuschlagen, gegen einen Stein treten, eine Tasse auf den Boden werfen usw. […]

Ist der Wutausbruch vorbei, tritt oft wieder eine Ruhepause ein. Das bedeutet aber nicht, dass damit das grundsätzliche Problem gelöst ist. Derjenige, der seine Verletzung in der Wut äußert, hat nur noch nicht gelernt, wie er sie auch mit Traurigkeit und/oder Ärger äußern kann.

Wir fordern sie auf, ihre Wut noch stärker auszudrücken, und versuchen dann durch Stimulieren und Unterstützen, den Weg zurückzugehen. Wir fordern sie auf, beim Ausdruck von Wut laut zu schreien und ihren Ärger auszudrücken, bestätigen sie, dass sie tatsächlich wütend ist und ein Recht darauf hat und versuchen damit, ihre grundsätzliche Traurigkeit für sie erfahrbar zu machen. Jede Aktivität, mit der versucht wird, den Wutausbruch zu bremsen oder umzulenken, führt nach unserer Erfahrung dazu, dass das Gefühl der Verletzung wieder nicht direkt ausgedrückt werden kann, sondern sich einen anderen Weg suchen muss.

Während Wut ungebündelt, nicht zielgerichtet und nach außen gerichtet ist, sind aggressive Handlungen komprimiert und zielgerichtet (lat. ad gredire = auf etwas oder jemanden zugehen). Das Gefühl von Unwohlsein, entstanden durch die Verletzung, wird jetzt gezielt einem Gegenstand oder einer Person gegenüber ausgedrückt. Wichtig ist es dabei, die Qualität der Aggression zu verstehen. Ziel aggressiver Aktivität ist nicht, den anderen Menschen zu verletzen oder etwas Böses zu tun, sondern sein eigenes Gefühl der Verletztheit so auszudrücken, dass der andere es wahrnimmt.

Aggression ist unser Erachtens grundsätzlich nicht lebensvernichtend, sondern lebensbejahend: In der aggressiven Handlung bejaht der Mensch sein eigenes Leben. Es ist für ihn sogar notwendig, sich so zu verhalten, damit sein Leben weitergehen kann. […]

Wenn aggressive Aktivitäten unterbunden werden, ohne ihnen einen anderen Weg anzubieten, oder wenn das verletzte Kind seine Wut nicht aggressiv äußern kann, sucht sich das verletzte Gefühl einen anderen Ausweg und wird zur Autoaggressivität.

► Thijs Besems, Gerry van Vugt: Wo Worte nicht reichen (1990)

Gerry van Vugt, Thijs Besems   |   Tags: emotionen