Das verbannte Wissen
Je eindeutiger ich in meinen Äußerungen werde, um so mehr lerne ich von den Reaktionen anderer. Manche Reaktionen fordern mich heraus und regen mich zum Weiterdenken und Präzisieren an. So erging es mir auch mit den häufig geäußerten Fragen nach der Unschuld der Eltern, die sich etwa so zusammenfassen lassen: »Aber Sie meinen doch nicht, die Eltern seien schuldig, wenn sie ihr Kind aus Verzweiflung mißbrauchen? Sie haben doch selbst geschrieben, daß die Eltern unter dem Zwang stehen, die unbewußten Traumen ihrer Kindheit auf ihre eigenen Kinder zu übertragen, und deshalb ihre Kinder mißhandeln, vernachlässigen, sexuell mißbrauchen.«
Solche Argumente machten mir klar, daß ich jetzt einen Schritt tun muß, den ich in meinen ersten Büchern noch nicht zu tun wagte. Ich gehe dabei von der ganz einfachen Erkenntnis aus, die eigentlich von niemandem bezweifelt werden kann und die lautet: Jeder, der menschliches Leben zerstört, macht sich schuldig. […] Mit einer Ausnahme: Eltern dürfen das Leben ihrer Kinder straflos zerstören. Obwohl es sich um eine Zerstörung handelt, die sich in den meisten Fällen in der nächsten Generation wiederholt, ist sie durchaus nicht verboten, es ist nur verboten, dies als einen Skandal zu bezeichnen. Dieses Tabu hat mich lange daran gehindert, die Schuld der Eltern klar zu sehen und zu formulieren. […]
Kann man eine Frau beschuldigen, die nichts Besseres wußte? Heute würde ich sagen, daß man es nicht nur tun kann, sondern sogar muß, damit deutlich wird, was Kindern stündlich passiert, und damit auch die unglücklichen Mütter endlich einmal wahrnehmen dürfen, was ihnen in ihrer Kindheit zugefügt wurde. Denn die Angst, Eltern zu beschuldigen, verstärkt den Status quo: es bleibt bei der Ahnungslosigkeit und der Weitergabe kinderfeindlicher Haltungen. Dieser gefährliche Teufelskreis muß durchbrochen werden.