Daseinsscham in der ersten Begegnung mit dem vorborgenen Kind
Im Brennen der Scham offenbart sich dem Erwachsenen das verstoßene und seither verborgene Kind. Es gab eine frühe Zeit, an die wir uns vielleicht gar nicht mehr erinnern, in der wir uns voller Vertrauen und Lust, uns zu zeigen, herausgewagt hatten, in der selbstverständlichen Erwartung, offenen Augen und Armen zu begegnen. Doch die Augen der anderen blickten teilnahmslos, und ihre Arme hingen tot herunter, und nachdem wir uns aus der Höhle des Geheimnisses herausgewagt hatten, schämten wir uns jetzt in den Boden. Falls sich diese vernichtende Erfahrung über längere Zeit wiederholt, setzt sich in uns nach und nach die allgemeine Scham fest, überhaupt am Leben zu sein. Ich nenne sie ‘Daseinsscham.’ Sie bestimmt das Leben so sehr, daß wir uns nicht mehr weiter vorwagen, sondern uns gewohnheitsmäßig vorschnell in die Höhle des Geheimnisses zurückziehen, mit der heimlichen, kaum bewußten Hoffnung, daß eines Tages jemand kommt, stellvertretend für uns den ersten Schritt tut und aus dem dunklen Versteck ans Tageslicht der Wirklichkeit geleitet. Selten erfüllt sich diese Hoffnung, und erfüllt sie sich doch, kommen wir nicht umhin, mit der Empfindung brennender Scham den Schritt mitzumachen. Letztlich müssen wir den Schritt alleine gehen und mit spürbewußter Scham die Schwelle zur eigenen Unabhängigkeit überschreiten. Dann löst sich die Scham in die Bereitschaft auf, uns als Fremde anderen Fremden zu zeigen. Mit der Freiheit zum Selbstausdruck haben wir das verstoßene, verborgene Kind wiedergefunden.
Ein 35 jähriger Mann berichtete in einer Gruppe von einem psychodelischen Trip mit halluzinogenen Pilzen, den er gemeinsam mit einem anderen unternommen hatte. In dessen Verlauf nahm er sich plötzlich als Indianersäugling und den anderen Mann als alten, weisen, mit Streifen aller Farben bemalten indianischen Medizinmann wahr. Der andere habe ihm hernach erzählt, ihn als »erwachsenen Säugling« gesehen zu haben. Er habe wie ein verlassener, verzweifelter Säugling geschrien und sich mit Zuckungen fahrig und ruckartig bewegt. In diesem Alter, nämlich mit zwei Monaten, wurde er, so erzählte er uns, tatsächlich seinen Eltern, die beide Alkoholiker wa-ren, weggenommen und in ein Heim gesteckt. Offensichtlich kehrte er im Trip in dieses frühe Alter zurück und lebte seine damalige Verlassenheit durch, mit Emp-findungen, die ihm bisher nicht zugänglich waren.
Ich erzähle diese Geschichte aus folgendem Grund: Der Mann unterstrich, daß seine stärkste Empfindung als Indianersäugling nicht Verlassenheit und Verzweiflung, sondern Scham gewesen sei, bodenlose Scham. Vergeblich habe er versucht, sich vor dem anderen Mann hinter seinen Händen zu verstecken. Das erinnert an Adam und Eva im Buch Genesis, die sich, nachdem sie verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis gekostet hatten, aus Scham Gott nicht zeigen wollten und versuchten, sich vor ihm zu verbergen. Diese Art von Scham brennt mehr als Schuld: Sie ist das Gefühl, ohne Wert und Daseinsberechtigung zu sein. Auch die Scham des 35 jährigen Mannes war total:
Urscham, Daseinsscham als Folge der Tatsache, daß er als Säugling nicht willkommen war, allgemeine Lebens-scham aufgrund des frühen Traumas völliger Isolierung und Verlassenheit. Aus gesundem Selbstschutz verdrängte er dieses Gefühl der Selbstverneinung?. Unter Drogeneinfluß brach es durch, und er spürte zum ersten Mal in seinem Leben die Daseinsscham, die ihn bisher daran gehindert hatte, seine Begabungen und Fähigkeiten mit Selbstvertrauen zu zeigen und zu entwickeln. In der Gruppenmitte ging diese Erfahrung weiter - ohne Droge.
Lange Zeit harrte er spürbewußt in der selbstzerstörerischen Scham aus, fest und warm gehalten durch eine Frau, zu der er im Laufe der Therapiewoche Vertrauen gefaßt hatte. Er erzählte die lange Geschichte eines Lebens, das an entscheidenden Schwellen immer wieder durch Scham unterbrochen und vernichtet wurde. Nach und nach wandelte sich die Scham in Traurigkeit über das bisher ungelebte Leben. Sie bedeutete den ersten Schritt in einem Dasein auf der Spur des Kindes, das seine reiche Emotionalität und sein Entwicklungspotential nicht mehr aus Scham vor sich und anderen verbarg.
Daseinsscham hat eine noch ursprünglichere Bedeutung als die lebensgeschichtliche. Was bedeutet die archetypische Urscham - die Daseinsscham als Existential -, auf die sich die spätere individuelle, lebensgeschichtlich bedingte Erfahrung der Scham aufpfropft? Die Antwort sei hier nur angedeutet: Sie meint die Tatsache, daß wir uns auch in der liebevollsten Umgebung als Fremde fühlen, in einer entscheidenden, inhaltlich nicht definierbaren Hinsicht nicht wahrgenommen und ungeliebt, zu Hause nicht ganz zu Hause, in der Welt nicht fraglos geborgen.
Paradoxerweise ermöglicht es uns erst diese Fremdheit, mit anderen in Beziehung zu treten. Zwei Menschen, in der Urscham verbunden, leben in der Lebensspannung zweier Geheimnisse, die sich gegenseitig nie ganz erschließen werden. Sie treffen sich in der Urscham des verborgenen Kindes, des nie ganz auslotbaren, nie ganz offenbaren, immer auch verborgenen Lebensschwungs. Die existentielle Urscham ist da, um die im Geheimnis verwurzelte Identität zu schützen.