Die Opferhaltung als Überlebensstrategie
Der Begriff Opfer muss von der Opfer-Überlebenshaltung unterschieden werden. Bei jeder Traumatisierung gibt es ein wirkliches Opfer. Wenn aber jemand sein Leben in Hilflosigkeit und ständigem Leiden verbringt, sprechen wir in der loPT von einer Opfer-Überlebenshaltung.
Sein Leben wie ein Opfer zu leben, selbst wenn die tatsächliche Traumasituation des wirklichen Opferseins lange vorüber ist, ist eine Opfer-Überlebenshaltung. Sie hat den gleichen Zweck wie alle Überlebensstrategien: das Vermeiden der Auseinandersetzung mit dem eigenen Trauma. Jemand, der auf diese Weise lebt, täuscht Hilflosigkeit vor, um die Realität seines Traumas nicht wahrhaben zu müssen. Seine Hilflosigkeit entspricht nicht der Realität, sondern ist eine Haltung. Das bedeutet, dass dieser Mensch sich selbst und sein Trauma nicht ernst nimmt.
Diese Person nimmt das Leben so wahr, als ob alles immer schlimmer würde, nie etwas gut gehe, sie vom Leben benachteiligt und damit ein Opfer sei. Sie scheitert in allem, was sie versucht. Sie muss sogar scheitern. Denn wenn sie es nicht tut, muss sie ihren Opferstatus und damit ihre wichtigste Trauma-Vermeidungsstrategie aufgeben.
In jedem anderen Menschen wird ein potenzieller Retter gesehen, doch es endet immer mit einer Enttäuschung. Dies verstärkt den Eindruck, dass es unmöglich sei, selbst etwas zu ändern: Das Leben ist unfair, alle sind Übeltäter. Die betroffene Person begibt sich immer mehr in ihre Opferrolle hinein, klagt ständig über ihr Schicksal und belastet und überfordert andere mit ihrem Bedürfnis, befreit und gerettet zu werden.
Wenn die derart benutzten Personen dann versuchen zu helfen, stellen sie fest, dass sie es gar nicht können. Das bei den potenziellen Rettern hierdurch entstehende Gefühl von Hilflosigkeit führt dazu, dass sie beginnen, sich ihrerseits als Opfer zu fühlen. Die Ausweglosigkeit der Situation zusammen mit den überzogenen Ansprüchen, die ständig an sie gestellt werden (das Beharren darauf, die Not sei so groß, die Hilflosigkeit unendlich, die Erkrankung so unüberwindbar, alles und jeder sei gegen sie), wirken zermürbend. Die Helfer ziehen sich zurück und verstärken so das Gefühl von Einsamkeit, Ablehnung und Ungerechtigkeit beim Opfer.
Auf diese Weise nämlich wird eine Person, die sich als hilfloses Opfer wahrnimmt, zum Täter an anderen Menschen. Ihre unendliche Hilflosigkeit ruft in anderen wiederum Täteranteile wach. Letzten Endes stößt die Person andere Menschen, deren Befreiungs- und Rettungsversuche zurückgewiesen werden oder scheitern, mit ihrer Opferhaltung ab. Als Folge daraus wird die Person zunehmend abgelehnt und gemieden. Das bestätigt das Opfer in seiner Rolle, und der Zyklus von Enttäuschungen setzt sich fort. Die Person gerät noch tiefer in ihr Opferdasein hinein.