Opfermodus und Kampfmodus

Der Opfer-Überlebensmodus

In diesem Überlebensmodus fordert das Opfergefühl der Mutter, welches aus ihrem Trauma und ihrer gespaltenen Psyche heraus entstanden ist, von jedem Menschen, sie zu retten, ihr zu dienen, sein Leben für sie aufzugeben. Für diese Art Mutter ist es unabdingbar, dass sich ihr Kind für ihre Sehnsüchte und Wünsche opfert. Die Mutter akzeptiert das Kind nur, wenn sie von seiner Hilflosigkeit und Unterwürfigkeit profitieren kann. Das Kind ist gewollt, nicht um seiner selbst willen, sondern um etwas für seine Mutter zu tun.

Die Anerkennung der bloßen Existenz des Kindes ist nur gestattet, wenn sich das Kind „unsichtbar" macht und zu einem hilflosen, willigen Opfer seiner Mutter wird. Die Mutter macht aus dem Kind ein Objekt, dessen einziger Zweck darin besteht, die Bedürfnisse der Mutter zu erfüllen. Die Mutter kann die Andersartigkeit des Kindes nicht ertragen oder tolerieren, und das Kind kann nicht anders als ein Opfer seiner Mutter und ein dienendes Objekt zu sein. Dies führt zu einem Leben in konstanter Opferhaltung mit Hilflosigkeit, Verletzbarkeit und ohne den Willen, die Situation zu ändern. Der Gebrauch des eigenen natürlichen Wollens, eine eigenständige Person zu sein, ist unbewusst verknüpft mit dem furchtbaren und lebensbedrohlich wirkenden Gedanken, den Kontakt zur Mutter zu verlieren. Dies überhaupt zu überleben, erscheint absolut unmöglich - außer in der Opferhaltung.

Wenn die Mutter über keinerlei Klarheit über sich selbst, ihr Leben und ihre Identität verfügt und ihr Kind als Lebensquelle, als Energieressource oder Identität benutzt, um irgendein Gefühl für ihre eigene Existenz zu haben, wird sie zum Parasiten ihres Kindes. Das ist die invasivste Form von Ausbeutung durch die Mutter.

Damit Heilung wirkt, braucht es Willen. Einem Menschen, dessen einzige Ressource es war, als Opfer der mächtigen Täterin-Mutter Zu funktionieren und ohne eigenen Willen zu existieren, ist so ein persönlicher Wille völlig unbekannt. Er wird als gefährlich und sogar als unmöglich erlebt. Im Heilungsprozess muss dieser Mensch damit kämpfen, den Willen aufzubringen, um weiterzumachen, da alle Versuche, zu heilen und er selbst zu werden als lebensbedrohlich erfahren werden. Die einzige Möglichkeit, die er sieht, ist die, von jemand anderem gerettet zu werden, da es für ihn unvorstellbar ist, selbst irgendetwas tun zu können. Diese Form der Rettung nutzt die Bereitwilligkeit des Menschen aus, der die Rettung übernehmen soll und die Rettung ist verbunden mit der sinnlosen Hoffnung, dass die Mutter den „Fluch" aufheben und ihr Kind doch noch retten und lieben wird. Denn das Kind fühlt sich nicht in der Lage, irgendetwas zu erreichen, das dem Willen seiner Mutter widerspricht.

Der Kampf-Überlebensmodus

Im Unterschied dazu wird das Kind, das keinen möglichen Nutzen für die Mutter darstellt - nicht einmal als Sklave oder Diener - das Kind, dessen Existenz von Anfang an nicht gewollt war, und das von seiner Mutter ignoriert wird, wahrscheinlich eher seinen Willen nutzen, um für sein Leben zu kämpfen. Dieses Kind kennt deshalb seinen Willen und benutzt stille, innere Rebellion oder offenen Ungehorsam, Sturheit und ständigen Kampf, um einigermaßen zu existieren. Der Wunsch der Mutter, dass dieses Kind niemals hätte geboren werden sollen, dass es nicht existieren möge, erlaubt dem Kind paradoxerweise, um sein Überleben zu kämpfen. Es muss nicht zu einem hilflosen Opfer werden, um zu überleben. Das „Opfer-Überlebenskind" wird als nützlich angesehen, ihm wird eine Rolle zugeteilt, wohingegen das „Kampf-Überlebenskind" eher ignoriert und überhaupt nicht gesehen wird.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie dieses Kind funktioniert: mit ruhiger, stiller und unterschwelliger Rebellion, mit offenem, widerspenstigem Kampf oder mit einer Mischung von beiden. Das Kind hat so die Chance, seiner Mutter, die seine Existenz ablehnt, willentlich zu widersprechen. Das Überleben im Mutterleib gegen ein klares Nein! der Mutter ist schon eine Rebellion riesigen Ausmaßes, worauf die Mutter mit Hass und offener Grausamkeit oder mit konsequenter Nichtbeachtung und Vernachlässigung reagieren könnte. In seinem Kampf mag dieses Kind, nahezu unbemerkt von der Mutter, existieren. Es muss wahrscheinlich schon sehr früh für sich selbst, seine Existenz und sein Weiterkommen sorgen, z. B. sich selbst um sein Essen kümmern, sich warmhalten, allein zur Schule gehen usw.

Anders als beim Opfer-Überlebensmodus mit einem ständigen Gefühl von Hilflosigkeit und einem Bedürfnis nach Rettung, wird dieser Mensch im Heilungsprozess seine eigene echte Hilflosigkeit bekämpfen. Ständig wird et denken, dass er etwas tun muss, etwas in Ordnung bringen muss, mit sich selbst kämpfen muss, um zu überleben. Er sieht nicht, dass et überlebt hat und den Kampf jetzt aufgeben kann, dass er mit sich selbst in einen verletzlichen emotionalen Kontakt kommen kann und den echten Schmerz, über das, was ihm angetan wurde, fühlen kann. Für diesen Menschen, der sein Leben damit verbracht hat, seine reale Hilflosigkeit unter dem Deckmantel eines kontinuierlichen Kampfes zu verstecken, ist das Fühlen seiner Hilflosigkeit erschreckend, weil dies ursprünglich seinen Tod bedeutet hätte. Diese Person benutzt Täterstrategien, um den Kampf aufrechtzuerhalten. Sie erschöpft ihre Energie und wendet ihren Willen in einem ewigen Kampf gegen sich selbst.

Beiden Überlebensstrategien, dem Opfer-Uberlebensmodus und dem Täter-Uberlebensmodus, begegnen wir in der Praxis. Aber wenn es für den Klienten darum geht, einen großen Heilungsschritt zu machen, wird einer der beiden stärker zum Vorschein kommen.

Fazit

Das Trauma der Identität ist tief in unserer Psyche verwurzelt, weil es so früh geschieht, oft schon während der Schwangerschaft. Das macht es unmöglich, an unserer eigenen Identität festzuhalten. An dieses Trauma können wir uns in unserer bewussten Psyche nicht erinnern. Daher wachsen wir als gespaltener, traumatisierter Mensch auf, in dem Glauben, das seien wir. Wir setzen unsere Überlebensstrategien mit unserer Person gleich: Wir sind im Unrecht, falsch, dumm usw. Unsere Gesellschaft hat viele Vorschläge und Strategien, mit denen wir uns verbessern und glücklicher, gesünder, erfolgreicher, besser in Beziehungen werden können. Doch das Einzige, was all diese Techniken zur „Selbstentwicklung" tun, ist, unsere Überlebensstrategien zu stärken.

Das führt dazu, dass wir uns weiter von uns selbst entfernen, weil die zugrundeliegende traumatische Realität nicht angesprochen wird.

Die Auswirkungen dieses Traumas sind weitreichend. Als Erwachsener weiß ich vielleicht nicht, was ich will, und stelle die Bedürfnisse anderer über meine eigenen und identifiziere mich mit deren Vorstellungen und Wünschen. So weiß ich nicht, wer ich bin oder was ich will. Ich glaube, die Person zu sein, die mit den Vorstellungen meiner Mutter übereinstimmt. Aber weil das nicht zutrifft, ist dieses Konstrukt von mir zerbrechlich und droht ständig zu scheitern. Es führt zu Missverständnissen, Enttäuschungen und weiteren Spaltungen. Das Bedürfnis, die mit den Wünschen anderer übereinstimmende Illusion zu sein, führt zu Selbstverurteilungen, Selbstverletzung und weiteren Spaltungen, weil ich - genau wie meine Mutter - von mir enttäuscht bin und mich vielleicht sogar dafür hasse, dass ich es nicht schaffe, den Vorstellungen meiner Eltern zu entsprechen. Die Wahrheit darüber, wer ich bin, verblasst immer weiter, verschwindet im Hintergrund und lässt mich verloren und führungslos in meinem Leben zurück. Dass ich die Zustimmung meiner Mutter erlange ist unmöglich, weil sie nur ihre Wünsche und Vorstellungen von mir sieht. Mich sieht sie nicht, mich will sie nicht, und ich kann mein ganzes Leben vergeblich damit verbringen, ihrer Zustimmung hinterherzujagen. Ich bin eine Wunschvorstellung und ich jage einer Selbsttäuschung nach. Der emotionale Schmerz aus dem Trauma der Identität ist die tiefste, qualvollste Erfahrung unseres Lebens.

Es ist der Schmerz darüber, dass unser Leben von Beginn an eine Ablehnung erfährt, dass uns Lebensfreude und die Fähigkeit, unser Leben zu genießen fehlen. Und dass wir stattdessen gegen den Widerstand unserer Mutter, der wichtigsten Person in unserem Leben, überleben müssen.

► Vivian Broughton: Trauma und Identität (2024)

Vivian Broughton   |   Tags: täter-opfer, trauma