Die Täter-Opfer-Wippe: Einleitung

Wir fragten uns oft, zu welchen relevanten Themen wir öffentlich Stellung beziehen können und wollen. In den letzten Jahren ging es uns um die sogenannte Effektivität in der psychotherapeutischen Profession und unseren Zweifel am Machbarkeitswahn einer streng an Leitlinien orientierten oder rein verfahrensspezifischen Psychotherapie (Trautmann-Voigt & Voigt, 2020). Es ging uns um konstruktive Kritikversuche am festgefahrenen Schulendenken zwischen Verhaltenstherapie und Tiefenpsychologie und um Konzepte einer Methoden integrierenden Psychotherapie (Trautmann-Voigt & Voigt, 2017). Im vorliegenden Buch stehen nun drängende Fragen nach der Dynamik von struktureller und Menschen gemachter Gewalt und Macht-Ohnmacht-Konstellationen im Vordergrund der Betrachtung. Dabei geht es tatsächlich auch um so große Fragen wie die nach der Würde des Menschen, um Respekt vor dem Andersartigen und um die Hintergründe von verabscheuungswürdigem und missbräuchlichem Handeln.

Im ersten Kapitel stecken wir als HerausgeberInnen den Rahmen ab, in dem sich dieses Buch entfaltet, und eruieren das Bild dynamischer Wipp-Bewegungen. Wippen steht für vitalen Austausch und gemeinsame Bestrebungen um Balance und Ausgleich in intra- und interindividuellen Beziehungen. Der erstarrte Wipp-Effekt hingegen verweist auf Macht-Ohnmacht-Konstellationen, wie sie gesellschaftlich zum Beispiel in der aktuellen Missbrauchsdebatte der Kirche, im Skandal um das Ende der Trump-Ära in den USA oder in heimtückischen Mordanschlägen, die im gesellschaftlichen Raum passieren, zu finden sind. Wir denken, dass PsychotherapeutInnen, BeraterInnen oder PädagogInnen als gesellschaftlich wirksame Individuen mit dazu beitragen können, festgefahrene Macht-Ohnmacht-Konstellationen und dahinter liegende Strukturen zu entlarven, Haltungen der Würde und des Respekts zu propagieren und diese mit Blick auf unser aller politische und gesellschaftliche Verantwortung zu diskutieren sowie letztendlich dadurch auch politische Verantwortung im Rahmen ihrer Profession zu übernehmen.

Im zweiten Kapitel stellt Jochen Kehr Grundlagen einer Werteorientierten Psychotherapie anhand zweier unterschiedlicher Täter-Opfer-Dynamiken dar. Eine durch massive Abwertungsstrategien und Polarisierungen geprägte Paardynamik veranschaulicht, wie sich in einer Paarbeziehung zwei Menschen als Opfer generieren können, indem sie ihre eigenen Täteranteile ausblenden, während sich die Spirale der eskalierenden Negativdynamik ununterbrochen weiterdreht. Das altbewährte Teufelskreismodell von Schulz von Thun sowie dessen Modell eines ausbalancierenden Wertequadrats bieten die Basis für hilfreiche therapeutische Interventionen, die dazu verhelfen können, aus einer maladaptiven Täter-Opfer-Dynamik herauszutreten. An einem zweiten, gesellschaftlich breit rezipierten Beispiel, nämlich der zunächst völlig mangelnden Aufarbeitung des Missbrauchsskandals an der Odenwaldschule und des zugrunde liegenden psychosozialen Arrangements aller »Insider« dieser »Vorzeigeschule« wird deutlich, wie wichtig in Täter-Opfer-Dynamiken eine werteorientierte Parteilichkeit ist, die Mut und klare Stellungnahmen derjenigen erfordert, die von dem Unheil Kenntnis haben! Eine eindeutige Wertehaltung auch von TherapeutInnen erlaubt, parteilich für Opfer von Missbrauch oder anderen Straftaten zu sein. Unparteilichkeit oder Neutralität führe hingegen zur Retraumatisierung von Opfern, so die klare Überzeugung des Autors.

Immer gehe es dabei um eine sensible Balance zwischen Empathie, Authentizität, Wertebewusstsein und einem subjektiven Wirkungsbewusstsein. Dieses Plädoyer für eine nicht grundlegend abstinente und alle Seiten verstehen wollende therapeutische Grundhaltung gründet auf einem psychodynamisch-humanistischen Menschenbild und impliziert ein kritisches psychodynamisch-systemisches Psychotherapieverständnis. Die Selbstreflexion der eigenen Wertewelt weist den Pfad ins Unbewusste vor allem der Opfer. Dieser Artikel führt zu Fragen über die eigene Haltung, nicht nur in der Traumatherapie, sondern auch bezüglich des eigenen Selbstbewusstseins und Mutes, sich einzumischen und Schwächeren zu helfen: Dies geschah beispielsweise am 25.6.2021 in Würzburg, als beherzte Menschen einen offensichtlich schwer psychisch kranken Täter, der drei Menschen auf offener Straße abstach, aufhielten, sodass nicht weitere Opfer beklagt werden mussten.

Beatrix Vill beschäftigt sich im dritten Kapitel mit dem ökosozialen Thema von Mobilität versus Sesshaftigkeit. Die Bedürfnisse in modernen westlichen Gesellschaften verlagern sich zunehmend hin zu mehr Flexibilität und weniger ortsgebundenem Eigentum. Das ist per se ein Wertewandel, der die Generationen spalten kann. Opfer von Vertreibung und Flucht suchen stets eine neue Heimat und finden sie nicht unbedingt im Aufnahmeland. Dies war bei den Großeltern, die im oder nach dem Zweiten Weltkrieg irgendwo landeten und sich mühsam verwurzelten, nicht anders als bei MigrantInnen von heute. Als besondere Herausforderung stellt sich aber auch modernes Nomadentum für die jetzt junge Generation dar – in scharfem Kontrast zu der Aufbaugeneration der Babyboomer –, da die jungen Menschen sich aufgrund von gesellschaftlich geforderter Flexibilität nicht mehr unbedingt an das Haus oder die Firma von Eltern oder sogar Großeltern anbinden lassen möchten. Sind die jungen Menschen der Generationen Y und Z somit moderne Opfer der Umstände im 21. Jahrhundert? Zum Herumziehen verurteilt, ihrer Wurzeln beraubt? Die hier geführte Auseinandersetzung mit der Dimension des Wurzelns, der Heimat in einem ganz materiellen Sinne, dem eigenen Zuhause, in dem die eigene Kultur oder Religion zelebriert werden kann, was im Außen hingegen mitunter auf wenig Verständnis stoßen würde, eröffnet den Blick nicht nur auf das Thema von Krieg und Vertreibung, sondern ganz pragmatisch auch auf des Deutschen liebstes Statussymbol (nach dem Auto): das Eigenheim. Darin kann jede/r tun und lassen was, er/sie will – als »TäterIn« in einem ganz anderen Sinne, selbst bestimmt, selbst wirksam. Da die Freiwilligkeit des Nomadentums auch heute zeitweise infrage zu stellen wäre, dreht es sich in diesem Artikel auch um die Debatte des gesellschaftlichen Wertewandels und des in diesem Jahrtausend abrupt sich vollziehenden Schubes in eine digitale, schnelllebige Zeit, die per se traumatisierende Aspekte bereithält, wie Hartmut Rosa bereits vor einer Generation eindringlich darlegte (Rosa, 2005). Dies passiert, zumindest, wenn man starr an alten Werten hängt – so die Autorin –, unbewusst: Ein unvermitteltes Aufeinanderprallen von Werten aus der ursprünglichen Heimat mit Werten in einer neuen Umgebung kann auch psychosomatische Erkrankungen fördern, so die Autorin. Die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln, die in diesem Artikel einmal etwas anders angestoßen wird, ist aus unserer Sicht gerade für die ältere Generation, die ja so gern jung bleiben und so auch wahrgenommen werden möchte, eine spannende Herausforderung, welche zur innovativen Diskussion zwischen »Alten« und »Jungen« sowie über »alte und neue Wertevorstellungen« zwischen den Generationen führen kann.

Die Rolle des Nicht-Sagbaren, des zutiefst Verhassten, das wir uns nicht eingestehen wollen, die Ängste, die wir nicht spüren, sondern nur ausagieren können, um sie in hilfloser Manier dann doch nicht loszuwerden – das alles ist Unsagbares, ist das »Abjekte« in der Begriffsschöpfung von Julia Kristeva. Luise Althoff greift im vierten Kapitel die Implikationen des Unsagbaren auf und reflektiert die Rolle des Zuschauers, zum Beispiel des/r TherapeutIn, der oder die dieses Unfassbare erfährt. Der Paukenschlag liest sich mit Grauen am Ende des Beitrags: Die Erzählung eines Kindersoldaten, der nur am Leben bleiben durfte unter der Bedingung, seine Eltern zu erschießen. Das entzieht sich an Schrecklichkeit jeder normalen Vorstellungskraft und jedem normalen Mentalisierungsvermögen! Es verweist einmal mehr auf die Zerreißprobe des Opfers, das Täter ist und keines von beidem jemals wird verstehen können. Das Konzept der Mentalisierung, des sich Hineinversetzens in alle Facetten des Lebens eines anderen Menschen, wird von der Autorin ausführlich an einem alltäglicheren Beispiel, nämlich an einer Episode aus einer Schulstunde, beleuchtet. Dabei wird kleinschrittig operationalisiert, wie eine im Konzept der Mentalisierung geschulte Lehrkraft mit einem störenden und entwertenden Schüler innerhalb einer Stunde im Rahmen der Klassengemeinschaft umgehen könnte. Was es für die normale Bewältigung von Konflikten im Alltag und was es in der Psychotraumatherapie bedeutet, sich in einen anderen mit all seinen oder ihren Abgründen, verborgenen Wünschen, verschollenen Hoffnungen und unbefriedigten Gelüsten hineinzuversetzen, wird bei dieser Lektüre mit allen Konsequenzen erfassbar: Mentalisierung dessen, was nicht da ist, abgespalten, verleugnet, verhasst und dennoch oder gerade deswegen so fatal wirksam – eine fast unaushaltbare Anforderung, der wir uns als TraumatherapeutInnen stellen müssten, so die Autorin – oder, die Alter- native: Wir sähen eben nicht richtig hin. Der Inhalt dieses Beitrags berührt die Frage nach den eigenen Grenzen der Belastbarkeit, auch die Frage nach den impliziten Lehrplänen, die in den verschiedenen Therapieverfahren manchmal gut versteckt sind: Soll, muss, kann ich mir das alles antun, was an Schrecklichkeiten auf der Welt geschieht? Können wir als TherapeutInnen die geschundenen Individuen dieser Welt, auf die wir zufällig treffen, retten? Sollen wir, müssen wir, können wir mit unseren Mitteln solch einen Anspruch überhaupt erheben? Diese Frage berührt den Teil Eigennarzissmus, dem auch unsere Profession als gewisse »déformation professionelle« unterliegt. Die Autorin hat vielleicht eine mögliche Antwort auf obige Fragen vorgeschlagen: Das trainierte Mentalisieren hilft uns, immer wieder die Perspektive wechseln zu können, uns abgrenzen und dennoch eintauchen zu können in die Narrative des Abjekten. Wir persönlich erleben es als ausgesprochenes Privileg, aus unserer Sicherheit eines wohlgeordneten Therapieraumes heraus, wenigstens dies, das mentalisierungsbasierte Containing des Abjekten anbieten zu können. Wie viel oder wie wenig davon im Einzelfall notwendig erscheint, muss wohl jede/r TherapeutIn selbst entscheiden. Dieser Beitrag ermuntert jedenfalls dazu, sich mit dem Mentalisierungskonzept (nochmals) ausführlich zu beschäftigen. Denn es beinhaltet eben nicht nur das Hineinversetzen in die Perspektive des anderen Menschen. Es bedeutet auch das vorsichtige Erforschen des Nicht-Fassbaren, des Ohne-Objektbezug-da-Seienden, des »Nichts« – in einer unendlichen Geschichte, die wir nie ganz ergründen werden können –, da es so viel therapeutische Kompetenz und Performanz wohl niemals geben wird.

Das Nicht-Fassbare und Unerträgliche haben oft Menschen erlebt, die an Dissoziationen leiden und ihre mit sich selbst im Einklang stehende Persönlichkeit nicht ausbilden konnten. Dissoziative Identitätsstörungen entstehen stets durch massive »man made desasters«, meist durch erwachsene, überwiegend männliche Täter, die häufig in Gruppen ritualisierte Gewalttaten, vornehmlich an Kindern und Jugendlichen, verüben. Über rituelle Gewalt und ihre Ausprägungen und Folgen für die Betroffenen schreibt Angelika Eibach-Biallas im fünften Kapitel. Eltern und Angehörige profitieren nicht selten von solchen »Gemeinschaften«, in denen sie ihre eigenen Kinder den Quälern für Geld oder anderen Profit ausliefern. Ab dem Kleinkindalter entstehen auf diese Weise multiple Persönlichkeitsspaltungen, aus denen im Erwachsenenalter verschiedene unintegrierte Persönlichkeitsanteile resultieren und die gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten präsent sein können. Diese Konstellation führt zu einem psychischen Mix aus Panik, Aggression, Selbstverletzungen, psychosomatischen Schmerzattacken u. a. m. Der innere Anteil, der alle anderen beobachtet, ist meist archaisch-streng, verbietend, strafend, höchst selten milde oder verzeihend. Vielmehr werden Menschen mit dissoziativen Identitätsstörungen von inneren selbstschädigenden Befehlen und negativen Selbstzuschreibungen begleitet, oft auch von Drohungen und dem Zwang, sich Schmerzen zufügen zu müssen, gesteuert. Im Unterschied zu anderen traumatischen Störungen handelt es sich hier um die Ergebnisse von brutalstem »brain washing« bzw. um »Programmierungen«. Diese Formen ritueller Gewalt sind in der Öffentlichkeit nach wie vor wenig bekannt. Satanische Kreise, Sekten und im Verborgenen wirkende sogenannte »Religionsgemeinschaften« können sich immer noch in gesellschaftlichen Nischen fortpflanzen und ihr Unwesen treiben. Ihre Anhänger infiltrieren Politik, Wirtschaft und Justiz. Dies stellt Eibach-Biallas anhand der aktuellen Studienlage klar und appelliert an mehr Bewusstsein für diese PatientInnen, die oft zu Unrecht als schizophren oder emotional instabil diagnostiziert werden, ohne die eigentliche Ursache der Störung wahrhaben zu wollen – nämlich die fast vollständige Kontrolle über Körper, Geist und Seele eines anderen durch stillschweigende Billigung einer brutal aussaugenden Tätergemeinschaft. Allein das vertiefte Wissen über die Symptome einer sogenannten »DISS-Persönlichkeit« kann für das So-Sein dieser Menschen sensibilisieren, deren größte Angst darin besteht, von den TäterInnen verfolgt, gestellt und wieder gequält zu werden. Um dies zu vermeiden, schweigen sie und setzen sich der inneren Pein aus – fast tonlos und für PsychotraumatherapeutInnen schwer erreichbar.

Jennifer Mioc analysiert aus der Perspektive der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie zwei Fallvignetten im sechsten Kapitel. Ein 20-jähriges Mädchen, das unter struktureller Gewalt in der Familie leidet und Entwertungen, Angst und Ohnmachtserleben ausgesetzt ist, erfährt in der triangulierenden Rolle der Therapeutin Schutz und Halt. Die Ohnmacht des Kindes, das Missbrauch durch den eigenen Vater erlitten hat sowie seiner Mutter, kommt in tragischer Weise im zweiten Fall zum Ausdruck, da die Rechtsprechung eben diesem Vater den schließlich sogar unbegleiteten Umgang mit seiner Tochter zuspricht. Die Mutter wird als quasi erziehungsunfähig begutachtet und damit in die TäterInnenposition gedrängt. Die resultierende Hilflosigkeit im therapeutischen System wird entlarvt. Auf der Grundlage des Täter-Opfer-Retter-Modells stellt die Autorin die Spannungen der Täter-Opfer-Wippe, erweitert um die Position eines bedeutungsvollen Dritten, dar. Die Position der Retterin als idealisierter Therapeutin, die in ihrer ohnmächtigen Rolle die Position des Opfers sogar schlimmstenfalls verstärken kann, wird ebenso beleuchtet wie die Angst als Leitaffekt, die den Blick auf die Gesamtdynamik trüben kann.

Rebecca Kitzmann und Mathias Becker beschäftigen sich im siebten Kapitel mit dem in Schweden geprägten Syndrom des sich Aufgebens, des Uppgivenhetssyndroms. Lethargie, Apathie, emotionale Leere, Nahrungsverweigerung bis hin zur künstlichen Sondierung von Kindern verweisen auf eine bodenlose Hoffnungslosigkeit bezüglich der eigenen Zukunft. Besonders Kinder aus durch Abschiebungsangst betroffenen Flüchtlingsfamilien zeigten dieses bis dahin nicht beschriebene komplexe Syndrom, das an das Hospitalismusphänomen erinnert, das René Spitz (1976) schon in den 1940er Jahren beschrieb. Die Sicherheit, angenommen zu sein und bleiben zu dürfen, zum Beispiel nach positivem Durchlaufen des Asylverfahrens, führte bei den betroffenen schwedischen Kindern zum Verschwinden der Symptomatik. Schwedische PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen mischten sich gesellschaftlich ein und versuchten ihrer kollektiv empfundenen Ohnmacht angesichts der Wirkungslosigkeit jedweder Therapie Aus-druck zu verleihen, indem sie auf die Straße gingen und den versagenden Staat anklagten. Die beiden AutorInnen diskutieren an diesem Beispiel die Verantwortung des/der PsychotherapeutIn als einer professionellen Kraft im Gesundheitssystem eines Landes mit gleichzeitiger politischer Verantwortungsübernahme in der Rolle des/der sozial verantwortlichen und die Menschenrechte wahrenden BürgerIn. Besonders die schwedischen Ideale, den besten europäischen Sozialstaat darzustellen, die Schweden in der Tat bis Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts besonders hochhielt, zerbrachen Ende des letzten Jahrhunderts angesichts starker Inflation, Arbeitslosigkeit und massiver Migration aus Südosteuropa. Die Folge waren nationalstaatlich getönte und auf stärkere Ausgrenzung ausgerichtete Entwicklungen in der schwedischen Gesellschaft. Solche Entwicklungen zeigen sich derzeit in diversen Staaten West- und Nordeuropas und haben viel mit der ungerechten Verteilung von Ressourcen in dieser globalen Welt zu tun. Inwieweit sind wir als Menschen hier in diesen reichen Ländern ermächtigt, für Menschen aus Flüchtlingsgebieten Partei zu ergreifen, die von absoluter Hilflosigkeit übermannt werden? Inwieweit maßen wir uns als Individuen Grenzen überschreitende Einmischung in globale politische Prozesse an? In diesem Artikel findet sich eine weitere Dimension der Auseinandersetzung über Werte und die eigene Haltung bei interkultureller Psychotherapie, die immer mit einer komplexen Täter-Opfer-Problematik verwoben ist: Der Staat als Retter und Täter zugleich, je nachdem, ob er Menschen einwandern lässt oder nicht, aber auch der/die TherapeutIn als vermeintliche/r RetterIn oder TäterIn, dies nämlich dann, wenn er oder sie in ihrer maßlosen Hilflosigkeit angesichts der objektiven und faktischen Unsicherheit der PatientInnen versucht, Stabilisierung zu bieten und Ressourcen zu verankern: Auf welcher Basis denn überhaupt? Sind nicht alle gut gemeinten Interventionen zum Scheitern verurteilt, insofern schädlich, weil sie Sicherheit vorgaukelt, die nicht echt ist und somit retraumatisiert? Das ist eine aufrüttelnde und unbequeme Diskussion, wenn man sich ihr stellt, zeigt sich doch einmal mehr die Abhängigkeit unseres psychotherapeutischen Handelns vom übergeordneten Machtsystem im Sinne Habermas’ (1971 [1962]). Ja, vielleicht üben wir – ohne es zu wollen, geschweige denn zu wissen – strukturelle Gewalt an unseren geflüchteten PatientInnen aus? Um die grundsätzliche Destruktivität, mit der das Thema Trauma verknüpft ist, geht es im achten Kapitel im Artikel von Franz Resch. Der Beitrag hilft, vieles, was bereits verhandelt wurde, einzuordnen, gibt einen breiten Überblick über die Entstehung von Traumata, verweist auf transgenerationale Aspekte und auf den Einfluss verschiedenster Traumatisierungen auf die Hirnentwicklung. Wir könnten etwas Luft holen in der Mitte des Buches und uns auf wissenschaftliche Fundierung und theoretische Entwicklungslinien zu Trauma und zu Täter-Opfer-Beziehungen sowie auf die Erklärung des Wesens von Alarmreaktionen und auf das dis- soziative Kontinuum konzentrieren. Toxischer Stress führt zu bleibenden Schäden, nicht nur der Psyche, sondern auch des Körpers. Forschungen weisen zudem darauf hin, dass in der Kindheit missbrauchte Opfer ver- mehrt auch im Erwachsenenalter missbraucht werden und dass aus dem Bedürfnis heraus, vielleicht doch ein gutes Objekt zu finden, im Sinne der »Wiederholungstendenz« wiederum auch später misshandelnde oder missbrauchende Objekte gewählt werden. Wir können uns leider auch bei der Lektüre dieses Beitrages nicht zurücklehnen! Denn es wird überdeutlich, dass Schuldgefühle sowie Selbstbestrafungstendenzen, die aus früheren Traumatisierungen resultieren, die Reviktimisierungsgefahr verstärken. Zwei abschließende Beispiele für Täter-Opfer-Dynamiken weisen zum einen auf die perfide und krankhafte Sucht von Müttern hin, die ihre eigenen Kinder bewusst krank sehen wollen oder krank machen und das Münchhausen-by-proxy-Syndrom unbewusst nutzen, um selbst Zuwendung vom medizinischen System zu erhalten. Dass sie ihre Kinder dabei opfern und selbst zu Täterinnen werden, ist Teil dieser Störung. Zum anderen wird das selbstverletzende Verhalten, das emotional instabile PatientInnen zeigen, als präverbaler Appell verstanden, das Schutzbedürfnisse einerseits und Kontrollbedürfnisse über den eigenen Körper andererseits signalisiert und als hilflose Form der Selbstregulation verstanden werden kann und gleichzeitig eine Selbstdissoziation darstellt. In jeglicher Traumatherapie, so resümiert der Autor, muss es um den verlässlichen Rahmen, den eine Psychotherapie (hoffentlich) anbieten kann, gehen, damit die diversen Spannungen zwischen TäterInnen- und Opferanteilen ausgehalten und bestenfalls aufgelöst werden können.

Um die stationäre traumaorientierte Psychotherapie und die darin oft zu Kippbildern oszillierenden schwierigen Beziehungsdynamiken geht es im neunten Kapitel in dem Beitrag von Wiebke Pape. In ihrer Spezialabteilung für Traumafolgestörungen in einer psychosomatischen Klinik werden PatientInnen mit komplexen Traumatisierungen und dissoziativen Störungen behandelt. Anhand einer tätlichen Auseinandersetzung, in die zwei Patientinnen involviert waren, wird die innere Dynamik einer Opferkonstellation deutlich, die im Beziehungsgefüge mit einer Mitpatientin zunächst als Täterhandeln imponierte: Eine Patientin schützt sich vor einer anderen, die ihr Angst macht, indem sie sich ihr scheinbar unterwirft, also eine vermeintliche Opferposition einnimmt, sie in Wirklichkeit dadurch zu manipulieren und zu lenken und zu Gewalthandlungen herauszufordern versucht. Dieses Verhalten hatte sie im Kontakt mit der eigenen Mutter als letztlich ineffizienten Bewältigungsmechanismus erworben, was allerdings bis dahin unbewusst geblieben war. Im Beitrag erschließt sich die Vielschichtigkeit der Thematik, und es wird die Begrenzung des Denkens bei Anwendung eines dichotomen Musters einer Täter-Opfer-Wippe deutlich. Weitere Opfer-Täter-Konstellationen werden erläutert und Grundthematiken diskutiert: das Triggern traumaassoziierter Affekte, der Wunsch nach bedingungsloser Anerkennung des Erlittenen, die Wut über die erlebte Ungerechtigkeit, die Schwierigkeit, sich selbst als machtvoll zu erleben, die verinnerlichte Loyalität zu Bezugspersonen, die selbst TäterInnen waren, die Schwierigkeit der eigenen Affektregulation. Die Rolle eines eingespielten therapeutischen Teams mit der Möglichkeit, die verschiedenen Übertragungen der PatientInnen aufzufangen, ist bei dieser Klientel besonders wichtig, da starke Gegenübertragungsreaktionen zu verkraften sind und es immer wieder darum geht, die erwachsenen Anteile von traumatisierten PatientInnen anzusprechen und zu stärken. Am Trauma-Institut in Leipzig wurden sowohl ein eigenes Instrumentarium zur Diagnostik als auch eine eigenständige Körper- und Handlungsorientierte Therapiemethodik für schwer traumatisierte PatientInnen entwickelt. Ralf Vogt stellt in seinem Beitrag in Kapitel 10 ein integratives Konzept zur Traumabehandlung vor, das er im Verlauf von 30 Jahren mit seiner Frau Irina Vogt gemeinsam entwickelt hat. […]

► Sabine Trautmann-Voigt, Bernd Voigt: Die Täter-Opfer-Wippe (2021)

Bernd Voigt, Sabine Trautmann-Voigt   |   Tags: politik, täter-opfer