Die Täter-Opfer-Wippe: Verantwortung
“Reichen Schutzmaßnahmen für Mitglieder helfender Berufe aus? Es geht ja um eine zunehmende gesellschaftliche Radikalisierung und Enthemmung Einzelner oder bestimmter Gesellschaftsgruppen, denen grundsätzliche Fähigkeiten wie Konfliktbereitschaft, Spannungstoleranz, Frustrationsbereitschaft, Diskursfähigkeit sowie Empathie zu fehlen scheinen. Das intuitive Empfinden für eine gute Balance und Ausgleichsbemühungen zwischen extremen Handlungsmöglichkeiten sind bei diesen Menschen erstarrt. […]
Fast scheint es so, als habe sich diese Pathologie mit hoher Gewaltbereitschaft und Intoleranz dem “Fremden” gegenüber nicht nur auf Einzelne, sondern auf ganze Schichten, Gesellschaften und Staaten ausgedehnt. Was erleben solche TäterInnen als Recht, was als Unrecht? Wieso erleben sie sich als hilflose Opfer der Gesellschaften, in denen sie leben? […]
Sind demokratische Gesellschaften im 21. Jahrhundert auf dem Weg zu narzisstisch gestörten und emotional instabilen Tätergesellschaften? Traumatisiert etwa der rapide fortschreitende sogenannte “gesellschaftliche Wandel” die Menschen derart, dass sie Widersprüche gar nicht mehr aushalten können und quasi automatisch in eine erstarrte Täter-Opfer-Dynamik hineingeraten? […] Mit diesem Buch wollen wir dazu anregen, (selbst)kritische Reflexionen über die verschiedenen Systemkonstellationen, in denen sich Täter-Opfer-Dynamiken entfalten und in denen wir als professionelle HelferInnen eine Rolle spielen, zu vertiefen und daraus Konsequenzen zu ziehen. […] Wir können als PsychotherapeutInnen, BeraterInnen, PädagogInnen und MitbürgerInnen mit dazu beitragen, dass festgefahrene Gewaltstrukturen aufgedeckt werden. Wir können unsere individuellen Erfahrungen darlegen, Haltungen der Würde und des Respekts propagieren und diese mit Blick auf unsere politische und gesellschaftliche Verantwortung diskutieren.
Wir sind in der zuvor skizzierten Lebenswelt für die gesellschaftlichen (Macht-Ohnmacht-) Strukturen mit verantwortlich und gestalten diese mehr oder weniger bewusst mit. […] Es braucht aus unserer Sicht eine neue Diskussionskultur, die die Ursachen struktureller Gewalt aufarbeitet und die gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ehrlich beim Namen nennt.