Wahrnehmungsverzerrung bei Helfern
Heute wissen wir aus der Forschung über Erwachsene, die als Kinder misshandelt wurden, dass gerade sie häufig dazu neigen, ihre Eltern zu idealisieren und sich immer noch die Liebe von ihnen erhoffen, die sie früher nicht bekommen konnten. Sie rationalisieren die Gewalt („Mir haben die Schläge nicht geschadet“) und beschuldigen sich selbst („Ich hatte es auch verdient“…). Diese Rationalisierungen und Selbstbeschuldigungen schützen vor dem Schmerz, abgelehnt worden zu sein und sind Versuche, dem Unverständlichen einen Sinn zu geben und einen Rest Kontrolle über die Situation empfinden zu können. Sie sind zugleich aber nur oberflächliche Maskierungen. Auf einer tieferen Ebene ist immer noch das verletzte, zurückgewiesene Kind lebendig, das nun, konfrontiert mit der Gewalt anderer Eltern gegen ihre Kinder, seine Stimme wieder hören lässt. Darüber kann es zu Wahrnehmungsverzerrungen bei Helfern mit ähnlichen Kindheitserfahrungen kommen. Typische Wahrnehmungsverzerrungen in der Begegnung mit vernachlässigenden, missbrauchenden, misshandelnden Eltern können dann z. B. sein:
- Verdrängen, Verschweigen, Bagatellisieren
Die Verletzungen des Kindes scheinen unerträglich und werden daher auch zum eigenen Schutz in der Wahrnehmung unterschätzt und herunter gespielt. Unbewusst werden die Eltern in Schutz genommen, um die eigenen, inneren Eltern vor den Vorwürfen des inneren Kindes zu schützen.
- Projektive Ausgrenzung
Die Eltern werden als Gewalttäter gesehen, die bestraft werden müssen. Aus Angst vor diesen Eltern wird der Kontakt zu ihnen vermieden oder es wird ihnen aggressiv und ausgrenzend begegnet. Die Familie wird in Opfer und Täter gespalten, nach den Beziehungen kann nicht mehr gefragt werden.
Probleme in der Wahrnehmung, der Einschätzung und im Kontakt sind auf der anderen Seite aber auch dort denkbar, wo Helfer eine glückliche, ganz andere Kindheit hatten, als die Eltern und Kinder, die nun vor ihnen sitzen. Dann kann es ihnen schwer fallen, sich überhaupt vorzustellen und wahrzunehmen, was passiert ist und wie es dazu kommen konnte, sich einzufühlen oder die Eltern in ihren Eigenheiten anzunehmen. Die Gefahr liegt hier eher im Übersehen und Unterschätzen der Not der Kinder und Eltern. Auch hier zeigt sich, wie das eigene Gewordensein maßgeblich für die Vorstellungen darüber ist, wie Eltern sein und wie sie die Erziehung ihrer Kinder gestalten sollten. Es zeigt sich aber auch, wie schwer es überhaupt sein kann, sich diesem schrecklichen Geschehen zu stellen und es nicht erschrocken über die Gewalt und die Verletzungen der Kinder auszublenden.
Einen Zugang finden
Wie aber mit diesen Gefühlen im Bauch einen Zugang zu diesen Eltern finden? Wie kann man mit Eltern sprechen, die ihre Kinder massiv schädigen oder gar hassen? Es handelt sich bei diesen Eltern ja um Menschen, die grundsätzliche Schwierigkeiten haben, mit anderen angemessen in Kontakt zu treten, mit ihren Kindern aber eben auch mit Helfern. Unsere Erfahrung zeigt: Wir stehen vor der doppelten Aufgabe, Zugang zu den eigenen Gefühlen und zu den Eltern zu finden. Betroffenen Eltern mit Wut, Empörung, Anklagen und Vorwürfen zu begegnen, würde nicht weiterführen.
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