Wenn sie nicht hinschauen
Das Wichtigste ist zunächst einmal, dass Eltern ihre Kinder mit allem, was sie zeigen, ernst nehmen. Und zwar uneingeschränkt. Kein Kind oder Jugendlicher verhält sich willentlich auffällig. Viele Eltern fühlen sich persönlich beleidigt oder angegangen, wenn ihre Kinder ausbrechen oder sich einer Gruppe anschließen, deren Ideale häufig konträr zum Elternhaus sind. Wenn Eltern begreifen, dass ihre Kinder re-agieren und nicht nur agieren, erfolgt bei ihnen ein Richtungswechsel hin zu ihrer eigenen Person und Geschichte. Und dann können sie sich entscheiden, zu schauen, was denn aus ihrer Geschichte vielleicht so belastend ist, dass es bis zu ihrem Kind gelangt und dort weiter wirksam ist. Viele Erwachsenen wollen vielleicht gar nicht für sich hinschauen, sie haben Angst, dass Altes hochkommt, meinen, sie hätten mit etwas abgeschlossen usw.
Dann kann man ihnen die Konsequenz erklären: Wenn sie nicht hinschauen, tragen es die Kinder weiter. Und zwar ungefragt. Die Kinder sind die Letzten und Schwächsten im System. Wenn sich die Eltern diesem Gedanken verweigern, kann man in der Regel davon ausgehen, dass sie innerlich selbst noch nicht erwachsen und in einer gewisser Hinsicht an ihre Eltern gebunden sind. Sonst würden sie ihre Bedürfnisse nicht über die ihrer Kinder stellen. Verantwortungsvolle, erwachsene Eltern sind in der Lage, etwas auf sich zu nehmen, damit ihre Kinder freie, gesunde Menschen werden. Das liegt in der Natur des Lebens. […]
Wenn es Eltern gelingt, ihre Kinder mit ihren wie auch immer gearteten Schwierigkeiten unter dem Blickwinkel anzuschauen, dass diese unbewusst aus einer tiefen Bindungsliebe heraus agieren, um vielleicht Verdrängtes oder Schweres von ihnen sichtbar zu machen oder mitzutragen, haben sie in der Regel die Bereitschaft, sich dem zu stellen. […] Wenn die Eltern ein schweres Leben haben, können Kinder es nicht leicht haben, da sie sich zugehörig fühlen müssen. Und dazu gehört auch, sich zugehörig fühlen im Schlimmen oder Schweren. So macht es häufig keinen oder nur begrenzten Sinn, wenn man nur den Kindern therapeutische Hilfestellung anbietet. Viel wichtiger ist, dass die Eltern sich “erleichtern”. […]
Die Erfahrung zeigt, dass die Kinder immer dicht an das Wesentliche der Familie angebunden sind, häufig sogar dichter als die Eltern. Sie haben unbewusst Zugang zu dem, was wirklich ist in ihrem System. Oft sind die Eltern aufgrund unserer Rückmeldungen überrascht. In vielen Fällen ist es so, dass sie geglaubt hatten, ihre Kinder wüssten nichts von bestimmten Ereignissen. Oder sie sind tief berührt, weil sie erkennen, mit welcher tiefen Liebe ihre Kinder eigentlich vor ihnen stehen und sie auf etwas aufmerksam machen, was bei ihnen selbst vielleicht verschüttet ist.