Die Familiendynamik von Borderline-Patienten ist eine spezifische.

Die Familiendynamik von Borderline-Patienten ist eine spezifische.

Die Mutter und die Primärgruppe verhalten sich dem Kind gegenüber wechselhaft; häufig werden isoliert schulische Leistungen beachtet. Ein beständiges Gefühl von Geborgenheit wird dem Kind nicht vermittelt. Einzelne Bezugspersonen jenseits der Familiengruppe können dem Kind beschränkt das Gefühl von Geborgenheit geben. Das Kind als wertvolles, zu respektierendes Wesen im eigenen Recht mit Gefühlen und Ängsten wird nicht ernst genommen.

Es besteht kein Interesse am Kind, und mit dem Kind selbst wird in diesen Familien nicht gesprochen, sondern nur über das Kind; wie es sich benimmt, ob es gehorcht, ob es die verlangten Leistungen bringt oder nicht. Kreative Phantasien, Gedanken, Spiele, die nicht zweckvoll scheinen, aber ein spielerisches Entwickeln von Identität beinhalten würden, werden nicht gestattet. Das gefühlsmäßige Klima in Borderline-Familien ist in der Regel durch symbiotische Atmosphäre und abruptes Verlassenwerden bestimmt, durch Langeweile und auch Kälte.

Die Familie funktioniert privatistisch unter Ausschluß von Öffentlichkeit oder ist von gesellschaftlicher Hektik bestimmt, die an Status, Prestige, geldlichen Erfolgen und anderen äußeren Maßstäben ausgerichtet ist. Die borderline-krankmachenden Familien sind auch in ihrem sozialen Verhalten dysreguliert, von einer identitätslosen Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse hin zu verwahrlostem und antisozialem Verhalten. Das schwächste Mitglied der Familie wird buchstäblich in die Borderline-Erkrankung getrieben, weil es nur durch dramatisch aufgeführte Pseudoidentitäten Anerkennung in der Familiengruppe finden kann. Personlichkeitsdefizite und fassadäre Leistung bestimmen die Atmosphäre.

Bedeutsam für das Ausmaß der Störung der Ich-Entwicklung ist die homöostatische gruppendynamische Balance. Gerade bei den Borderline-Patienten Konnte ich wiederholt die Erfahrung machen. daß eine »gute Bezugsperson« in der frühen Kindheit, z. B. eine Großmutter, eine Tante oder die Eltern eines Freundes, den Patienten vor einer Schizophrenie rettete. Das Schicksal der sich entwickelnden Ich-Strukturen und damit auch das Lebensschicksal des Kindes hängt davon ab, welchen Platz das Kind in der Familie hatte: ob es nur in die Abwehrstruktur der Familie einbezogen wurde, ob es durch eine anderweitige »gute Bezugsperson« wenigstens zu einem Menschen reale Beziehungen hatte.

Die Voraussetzung für die Entwicklung der Ich-Struktur ist eine ausreichende narzißtische Zufuhr, die die Energie für alle Lebensprozesse liefert (Ammon 1978b). Im Sinne meiner Neukonzeptionalisierung der Narzißmustheorie (vgl. Kapitel 11.2 und Kapitel 11.6 des Handbuchs) bedeutet narzißtische Zuwendung nicht abstrakt Energie schlechthin in einem bloß physikalischen Sinne, sondern narzißtische Zufuhr beinhaltet, den Menschen in seinem ureigensten Identitätsbedürfnis zu erkennen und zu akzeptieren. Metaphorisch könnte man sagen, es ist nicht die Muttermilch, die das Leben erhält, sondern es ist die narzißtisch energetische Zufuhr von Mutter und Primärgruppe. Die Entwicklung von Ich-Strukturen ist ohne den gruppendynamischen Bezug und narzißtische Bestätigung nicht denkbar.

Den Zusammenhang von Primärgruppendynamik und spezifischem Krankheitsbild innerhalb des Spektrums der archaischen Ich-Krankheiten soll die Tabelle veranschaulichen.

Tabelle 1: Auswirkungen verschiedener Störungen in der Symbiose und in der Primärgruppe auf die Entwicklung des Kindes

► Günter Ammon: Das Borderline-Syndrom. Krankheit unserer Zeit. (1998)

Günter Ammon   |   Tags: borderline