Die Gesellschaftlichkeit des Individuums [und die Wichtigkeit von Selbsthilfegruppen]
Bis jetzt haben wir stark das individuelle Vorgehen mit einer Betroffenen betont. Das haben wir gemacht, weil wir der Meinung sind, dass Betroffene viel Hilfe und gesellschaftliche Unterstützung brauchen, damit sie ihre Probleme verarbeiten und entdecken können, dass sie wertvolle Menschen sind. Dabei soll die Therapie aber nicht aufhören. Wird dabei ausschließlich auf der individuellen Ebene gearbeitet, besteht die Gefahr, auch öfters für Psychotherapeuten, dass Inzest als ausschließlich individuelles Problem behandelt wird, das es jedoch nicht ist. Unsere Gesellschaft wirkt auf eine bestimmte Art und Weise daran mit, dass es zu Inzest kommt und weiterhin kommen wird. Nun ist es natürlich schwierig, die ganze Gesellschaft in unseren Therapieraum hereinzuholen.
Auch möchten wir nicht die Omnipotenzgefühle der Psychotherapeuten vergrößern, indem sie denken, dass sie die ganze Gesellschaft verändern können. Selbstverständlich können wir das nicht. Dennoch können wir auch als Psychotherapeuten einen kleinen Teil dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft auch in diesem Aspekt vielleicht ein wenig ändert. Wir denken, dass zwischen Hilflosigkeit und Omnipotenz ein großer Bereich liegt, in dem Therapeuten ihre Fähigkeiten noch einsetzen können. Eine erste Aufgabe sehen wir in der Möglichkeit für die Klientin, entdecken zu können, dass ihr Problem nicht ein rein individuelles Problem ist. Nicht mit dem Ziel, dass sie dann sagt: “Ach so schlimm ist es ja nicht mit mir”, sondern damit sie entdecken kann, dass nicht sie eine Störung hat, sondern ihre Umwelt gestört ist.
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Die konkreten Lebensumstände sind unterschiedlich, weisen jedoch eine Gemeinsamkeit auf: Der Täter arrangiert Situationen oder nutzt Situationen aus, immer wenn die Mutter abwesend ist.
Nachdem die Betroffene sich in ihrem Kontext wahrgenommen und beschrieben hat, versuchen wir ihr Interesse für Frauen zu wecken, die mit ähnlichen Beschwerden und Schwierigkeiten zu tun haben wie sie. Am einfachsten geht das natürlich in einer Gruppe. Wichtig ist dann, dass der Therapeut die Beschwerden nicht individualisiert als etwas ganz Besonderes, das nur ihr geschehen ist, sondern da die Therapeuten mit den Gruppenmitgliedern gemeinsam zu entdecken versuchen, ob es Ähnlichkeiten in Beschwerden, in Gefühlen, in Schwierigkeiten gibt. Wenn dann zum Beispiel verschiedene Frauen beschreiben, dass sie: sich schmutzig und wertlos fühlen, oft depressiv sind, Kopfschmerzen und Bauchbeschwerden haben, Probleme mit der Sexualität haben, dann wäre es sinnvoll als Therapeut zu fragen ob sie Gemeinsamkeiten entdecken. Ein Austausch zwischen Betroffenen wird anschließend dazu führen, dass sie nicht nur über ihre augenblicklichen Schwierigkeiten sprechen, sondern auch die Gemeinsamkeiten in ihren Geschichten und Erfahrungen entdecken. Daraus kann sich eine Solidarität entwickeln. Darin liegt auch der große Wert von Selbsthilfegruppen.