Die latente passiv-aggressive Kollaboration des Staates

Anscheinend aber ist die gruppendynamische Durchleuchtung von Familienprozessen immer noch tabuisiert. Dies drückt sich auch aus in der viel zu geringen Einrichtung von Elterngruppen in Schulen und Kindergärten und in der Individualisierung von Konflikten, d.h., es wird nur von Problemkindern, verhaltensgestörten Kindern und von minimal brain damage gesprochen. Erschreckend klar wird diese Dynamik an einer amerikanischen Untersuchung, die experimentell Aggression in der Öffentlichkeit untersuchte (SHOTLAND/STRAW, 1976). Die Ergebnisse waren so, daß bei öffentlich zu beobachtender Aggression in 60% der Fälle Nachbarn einschritten, wenn sie meinten, daß sich dort zwei fremde Personen stritten. Wurde die Vermutung nahegelegt, daß sich dort Familienangehörige stritten, griffen nur 19% ein.

Hier nicht eine offene und aktive Familienfürsorge zu betreiben, bedeutet eine passive Verweigerung des Staates gegenüber dem Problem der Kindesmißhandlung. Hier wiederholt sich auf institutioneller Ebene die latente passiv-aggressive Kollaboration des Staates mit dem Kindesmißhandler.

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Bei diesen Zahlen wird deutlich, welche enorme therapeutische Hilfe Behörden und Institutionen darstellen könnten, allein dadurch, daß sie einfach nur Hilfs-Ich-Funktionen anbieten, im Sinne einer social case work, indem sie in die Familien gehen und Elternberatung oder Partnerberatung durchführen, Zur Erhaltung und Wiederherstellung psychisch gesunder Familiengruppen muß ein in Gruppendynamik und Gruppentherapie ausgebildetes Personal zur Verfügung stehen, um Kindesmißhandlungen vorzubeugen. Sonst stehen wir in ein paar Jahren an derselben Stelle, an der wir heute bei dem Problem der Drogengefährdeten stehen. Ein viel zu spät einsetzendes Problembewußtsein läßt dann eher Ohnmacht als therapeutischen Optimismus zurück. Die ganze Tragik dieser Problematik wird deutlich an dem Konflikt des Arztes, der sich fragt, ob er eine Kindesmißhandlung melden soll oder nicht. Was geschieht dann mit dem Kind?

Verständnis von Dynamik, Umgehen mit gruppendynamischen Prozessen und Wissen um strukturelle Veränderungsmöglichkeiten bei Tätern oder Mißhandelten hat noch keine weite Verbreitung gefunden, weder bei Schul- und Gesundheitsämtern noch bei den Justizbehörden. Darüber hinaus ist die therapeutische Qualität von Heimen, sogenannten therapeutischen Einrichtungen und Kliniken äußerst umstritten. Fast könnte das Gefühl entstehen, daß die latente, verweigernde Aggressivität parallel der Dynamik des sich entziehenden Partners in der Mißhandlungsfamilie ist. Es ist aber auch so zu verstehen, und bei dem Grauen und Entsetzen, bei diesen Abgründen menschlichen Erlebens, wie es sich in der Kindesmißhandlung ausdrückt, daß Abschieben von Verantwortlichkeit eine psychische Abwehrhaltung darstellt.

Allein schon durch die Anzahl der bekannt gewordenen Kindesmißhandlungen, die ja nur die Spitze eines Eisberges darstellt, ist ein Umdenken der erste Schritt zur Prävention der Kindesmißhandlung. Eine hohe Aufklärung der Bevölkerung, die sich in der Anzeigenhäufigkeit niederschlägt, wie auch die aufmerksamere Arbeit der Jugendämter und Fürsorgestellen sind meist nur Interventionen nach vollzogener Tat. Die Prävention gegen die Kindesmißhandlung ist ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen, Drogen- und Suchtabhängigkeit, Verwahrlosung und Verhaltensstörungen im Vorfeld der Manifestation einer Krankheit oder einer Mißhandlung anzusehen. Während im Bereich somatischer Erkrankungen zumindest in den ersten Lebensjahren ein ausgedehntes Netz von Säuglingsfürsorgestellen und präventiven Maßnahmen behördlicherseits institutionalisiert ist, finden wir diese Fürsorge für den psychohygienischen Bereich der Familie im Sinne von Unterstützung, Beratung und Psychotherapie nicht. In der Praxis dürfte dies jedoch nicht heißen, eine Beratung durchzuführen, die sich allein auf das Kind als Symptomträger beschränkt, und alle Versuche der Änderung beim Kind haltmachen zu lassen. Die Beratung müßte im Sinne einer Aufarbeitung der aktuellen Familiengruppendynamik durchgeführt werden, d.h. unter Einbeziehen der gesamten Familie. Da wir davon ausgehen, daß das mißhandelte Kind analog den psychisch Kranken in der Familie als schwächstes Glied diese Rolle annehmen muß, die ihm durch die Gruppendynamik der Familie zugewiesen wurde, kann ein echter Schutz des mißhandelten Kindes nur in der Beratung, eventuell auch der Therapie der gesamten Familie liegen. Aufgrund der bekannten Tatsache, daß bei der Kindesmißhandlung der passive Elternteil oftmals psychodynamisch gesehen durchaus eine aktive Rolle emotionaler Art spielt, muß sich zumindest einer der Partner als Verbündeter des Kindes gewinnen lassen.

Reicht die Unterstützung und Beratung der Familie nicht aus, so wäre dann in einem zweiten Schritt der Schutz des Kindes vor den Mißhandlern zu vollziehen. Dieses stößt zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei allen mit Kindesmißhandlungen konfrontierten Personen wie Ärzten, Sozialarbeitern, Jugendämtern etc. auf große Schwierigkeiten, da der Schutz des Kindes vor dem Mißhandler zunächst nur in einem Heim oder in einer Pflegestelle erreicht werden könnte. Zum heutigen Zeitpunkt sind jedoch die Heimstrukturen der üblichen Heime nicht so angelegt, daß sie für eine gesunde Ich-Entwicklung des Kindes einen entsprechenden Raum bieten. D.h., ein in seiner Ich-Struktur vorgeschädigtes Kind wird in eine Institution gegeben, die aufgrund mangelnder Qualifikation diese kranke, fixierte Ich-Struktur verfestigt und perpetuiert. So wäre zumindest von den Heimen zu fordern, daß das dort tätige Personal persönlichkeits- und ausbildungsmäßig in der Lage ist, die pathologische Primärgruppendynamik des Kindes, die dieses verinnerlicht hat, zu erarbeiten und in einem sozusagen therapeutischen Milieu eine wiedergutmachende Entwicklung für das Kind anzubieten.

Es ist eine häufig vertretene Meinung besonders auch derjenigen Personen in der BRD, die sich mit Kindesmißhandlungsdelikten zu befassen haben, daß eine kranke Familie immer noch besser für das Kind sei als ein normales »Heim«. So wird aufgrund der hieraus resultierenden Resignation das Kind nach Bekanntwerden der Tat wiederum von der Gesellschaft verlassen und in das emotional feindliche und destruktive Klima der mißhandelnden Familie zurückgegeben.

Paradox wird die gesamte Situation jedoch, weil bei der bisherigen Schilderung das gängige Dogma »Eltern wissen am besten, was für ihr Kind gut ist« ad absurdum geführt ist. Ebenso ist der Schluß zu ziehen, daß eine Elternberatung, die sich in Form von Büchern über Erziehungsmethoden oder auch indirektem Gespräch mit dem Anbieten von Verhaltensweisen, beschäftigt, am Problem vorbeigeht und auf die Eltern eher nur belehrend wirkt.

► Günter Ammon: Kindesmißhandlung (1979)

Günter Ammon   |   Tags: kinderschutz