Mit zerbrochenen Flügeln
JEDES Leugnen der emotionalen Realität eines Kindes, das heißt jeder Zwang, jede Nötigung, Druck oder Motivation der Distanzierung vom eigenen Gefühl, ist emotionale Misshandlung. Dazu zählt jede Äußerung von Bezugspersonen, die das Kind dahin nötigen, eigene Empfindungen in Frage zu stellen, sich von ihnen zu distanzieren oder sie sogar als Belastung für andere wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang müssen auch einige typische emotional misshandelnde Äußerungen, die sich ähnlich wie der Klaps oder die Ohrfeige, als „normal“ und sogar „hilfreich“ in der Erziehung etabliert haben, kritisch hinterfragt werden.
“Du brauchst doch keine Angst haben.”
Botschaft: Du fühlst falsch, deinem Gefühl kannst du nicht trauen, du brauchst andere, die dir sagen, was du fühlen sollst.
“Ein richtiger Junge weint nicht.”
Botschaft: Trauer zu zeigen ist falsch, du bist dann ’nicht richtig’ und wirst von anderen zurückgewiesen. Es ist besser, dieses Gefühl zu verleugnen. Trauer ist ein Gefühl für dass sich ein ‘Mann’ schämen muss.
“Mami hat dich wieder lieb, wenn du auch wieder lieb bist.”
Botschaft: Dein Gefühl (Wut) ist schlecht, andere ziehen sich dann von dir zurück. Du wirst nur geliebt, wenn du dich ignorierst und im Sinne anderer richtig funktionierst.
[…]
Ein Mensch, der ein negatives Selbstbild verinnerlicht hat, der seine Mitmenschen und seine Umwelt als bedrohlich wahrnimmt, wird sich auch dementsprechend in dieser Welt bewegen und nach Bestätigungen seines Grundkonzeptes suchen. Selbsterfüllende Prophezeiungen bestätigen ihm dann genauso sein negatives Welt- und Lebensbild wie es im positivem Sinn bei den Menschen geschieht, die ein stabiles Urvertrauen entwickeln konnten."
[…]
“Borderline-Betroffene sind in ihrem tiefsten Sein wie hilflose Kleinstkinder. Der Spaltungsmechanismus (Schwarz-Weiß-Denken) entstammt jener frühkindlichen Phase, in der ein Kind die Mutter in ihrer Zuwendung als nur gut (sie ist da und versorgt) oder als nur schlecht (sie ist nicht da und versorgt nicht) wahrnimmt. Im gleichen Zeitraum ist das Kind von seiner Mutter zutiefst abhängig und symbiotisch mit ihr verschmolzen. Es hat ein existentielles RECHT, ihre bedingungslose Zuwendung einzufordern. Kein Mensch würde das Verhalten eines 10 Monate alten Kindes in Frage stellen, welches durch schreien darauf aufmerksam macht, dass es versorgt werden will. Das hemmungslos weint, wenn die Mutter das Zimmer verlässt, aus der Angst heraus, dass sie nicht wieder kommt (fehlende Objektkonstanz).
Kleinstkinder können nicht anerkennen, dass ihre Mütter oder Bezugspersonen Bedürfnisse haben, sie sind in ihrem Sein darauf zentriert, einzufordern. Sie sind Egozentriker, die zu Recht beständig Aufmerksamkeit und vor allem Bedingungslosigkeit verlangen. Das Leben erlaubt es ihnen, sie dürfen fordern. Dabei erfahren sie sich aber als abhängig, ohne ihre Mutter sind sie nicht lebensfähig. Ihren Wert erfahren sie in dem Maße, in dem diese sich ihnen zuwendet. Sie selbst sind, genau wie die Mutter, dann gut, wenn sie sich zuwendet und sie sind dann schlecht, wenn sie sich abwendet. Sie definieren sich in ihrem Sein über die Resonanz ihrer Bezugsperson. […]
Borderline-Persönlichkeiten sind nie erwachsen geworden. Ihren Symptomen nach verharren sie genau an jenem Punkt, an dem sie mit der Mutter noch bedingungslos verschmolzen sind. Und so verhalten sie sich auch.
Wenn Borderline-Eltern ihre Kinder systematisch vernachlässigen, misshandeln oder sogar missbrauchen, steht dahinter genau die zutiefst infantile Persönlichkeitsstruktur, des noch verschmolzenen, abhängigen und einfordernden Kleinstkindes. Die egozentrische, bedingungslose Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zählt mehr als die Versorgung des Kindes. Dabei stehen sie in Konkurrenz zu ihrem Kind nach dem Motto „ich oder du“.
Stress, Druck und die Ansprüche, die Kinder naturgemäß stellen, überfordern sie oft maßlos. In ihrer eigenen, grenzenlosen Bedürftigkeit, sehen sie sich von den Ansprüchen ihres Kindes überrollt. Sie geraten ständig in Konflikte mit dem Wunsch gut zu funktionieren und dem realen Erleben, den entsprechenden Anforderungen aber nicht gewachsen zu sein. Sie fühlen sich überfordert, unter maßlosem Druck und sind von sich und dem Kind enttäuscht. Borderline-Eltern erhoffen sich, aus ihrer Infantilität heraus, von der Geburt eines Kindes oft positive Veränderungen in ihrem Leben. Die Rolle eines Vaters oder einer Mutter ist mit Respekt verbunden. Sie werden gebraucht und geachtet, erfahren Aufmerksamkeit und bedingungslose Einheit mit ihrem Kind, das ganz ihnen gehört und sich nicht entziehen kann. (Siehe „Das Kind und seine Schuldigkeit“, S. 38.) Und so schaffen sie sich vor der Geburt ihres Kindes eine trügerische Struktur, einen illusorischen Halt, der ihnen die Sicherheit und Geborgenheit in der Welt geben soll, die sie so schmerzlich vermissen. Um dann zu erfahren, dass die Realität mit ihren Erwartungen nicht übereinstimmt. In ihrer Unfähigkeit, Verantwortung zu tragen, wird das Kind verantwortlich gemacht. Wut, Enttäuschung, Angst, Druck und Verzweiflung, werden an den vermeintlich „Schuldigen“ delegiert. „Weil du da bist, geht es mir jetzt schlecht, du bist schuld, an dem was ich fühle.”
[…]
Dabei geht es dem Borderline-Elternteil NICHT darum, seinem Kind zu schaden. Aus der oben beschriebenen kindlichen Persönlichkeitsstruktur heraus, versucht der betroffene Vater oder die Mutter, die Gefahr, die sie im Verhalten des Kindes für sich spüren, zu kontrollieren. Körperliche und auch emotionale Gewalt, sind hier ein hilfloser, verzweifelter Versuch, diese Gefahr für sich selbst abzuwenden. Wenn es zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse bzw. der Abwehr bedrohlich erlebter Situationen keine Alternative gibt, werden die Möglichkeiten genutzt, die bedingungslosen Erfolg versprechen. Hier erscheint Gewalt in jeder Form oft als einziges Mittel, um den bedrohlichen Feind, den das Kind in diesen Momenten verkörpert (schwarz und schlecht), abzuwehren.
An dieser Stelle möchte ich ganz besonders betonen, dass Borderline-Persönlichkeiten auf Grund ihrer Problematik nicht automatisch zu kindesmisshandelnden, Familientragödien auslösenden Übeltätern werden. Sie versuchen, sich in einer Welt zu orientieren, die sie aus dem Erleben und Weltbild eines Kleinstkindes wahrnehmen. Ihre Welt IST bedrohlich, ihr Leben IST ein andauernder Überlebenskampf, der sie in ständig neue Kriege zwingt. Sie verhalten sich nicht zerstörerisch, weil sie anderen schaden wollen, sondern weil ihnen keine anderen Möglichkeiten aus der Welt des eigenen, kleinkindlichen und bedrohlichen Erlebens zur Verfügung stehen.
Unabhängig davon haben sie das Erscheinungsbild erwachsener und durchaus souverän wirkender Persönlichkeiten. Da sie ausagierende und unkontrollierte Verhaltensmuster nur engen Bezugspersonen gegenüber zeigen, ist es für Außenstehende fast unmöglich, das wahre Geschehen zu erkennen.