Verstehen heißt Hilfe anbieten

Sich mit Fällen von Kindesmißhandlung, den Opfern und den Tätern zu beschäftigen, löst intensive Gefühle aus, bzw. wegen der Entsetzlichkeit der oft grausigen Geschehen eine enorme Abwehr. Wir sehen unsere Aufgabe darin, dem Täter und damit der durch ihn betroffenen Gesellschaft gerecht zu werden. Bei diesem Vorhaben fanden wir gerade große Hilfe bei Justizbehörden, die die Unmöglichkeit eines Schuld-und-Sühneprinzips am konkreten Fall erleben, die aber theoretisch und praktisch in der Frage, was statt dessen zu tun sei, alleingelassen werden.

In der Presseberichterstattung haben wir hingegen eher die Abwehrtendenz vertreten gesehen, die sich in der Richtung ausdrückte, das Strafmaß für zu niedrig zu befinden bzw. auf der Entsetzenswelle zu bleiben. Auseinandersetzung im Sinne eines Beziehens auf die gruppendynamische Ebene - gerade der gesellschaftlichen und kleingesellschaftlichen Phänomene - war nie zu beobachten.

Das Problem »Kindesmißhandlung« liegt nicht in der aktuellen Tat, die nur Ausdruck einer bestimmten Konstellation ist. Ohne die gruppendynamische Ebene von Täter, Kind und Mitbetroffenen, deren Ich-Struktur, die aufgrund ihrer Primärgruppen eine eigene Entwicklung bzw. Schädigung genommen hat, ist die Mißhandlung nicht zu verstehen und auch nicht zu verändern. Kindesmißhandlung ist zu verstehen als ein Exponent des in pathologischen gruppen- und psychodynamischen Prozessen eingebetteten Geschehens. Damit steht auch die Frage nach der Großgruppendynamik der Gesellschaft im Mittelpunkt. Defizitäre Gruppendynamik schafft defizitäre Persönlichkeiten. Kindesmißhandlung im Spektrum von Abtreibung, über Frühgeburten, Vernachlässigung bis hin zum Mord haben zwar den Charakter unbewußter psychodynamischer Vorgänge, sind aber genauso Ausdruck einer konkreten, aktuellen und einer verinnerlichten Gruppendynamik. Solange das gruppendynamische Geschehen aber als ein innerfamiliäres Geschehen begriffen wird, wird der ganze Rahmen der das Ich stützenden und entwicklungsnotwendigen Beziehung von Gruppen außerhalb der Familiengruppe nicht genügend beachtet.

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Auf die Hilflosigkeit vieler Behörden sind wir in den vorangegangenen Kapiteln schon eingegangen. […] Einmalige Gespräche, wenn im Grunde akute Mißhandlungen vorliegen, wirken dann eher symptomorientiert als “Pflasterkleben”.

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Gesellschaftliches Handeln nach dem »Sühneprinzip« oder ein konsequenzloses »Verstehen« schaffen keine Abhilfe. Verstehen in unserem Sinne heißt: Eltern und Kindern die Hilfe anzubieten, mit der sie sich verändern können; den sichersten Schutz für das Kind stellen nicht Ordnungsmaßnahmen dar, sondern eine erfahrungsfähige Familiengruppe, die eine kreative Entwicklung ermöglicht, eingebettet in einem gruppendynamisch offenen Zusammenhang von Beziehungen in einem gesamtgesellschaftlichen System von Gemeinschaft.

► Günter Ammon: Kindesmißhandlung (1979)

Günter Ammon   |   Tags: kinderschutz