Verstrickungen
[…] Ihre Haupt-Überlebensstrategie ist auch hier die Spaltung: Sie trennt sich schnell von einem Partner und bricht Beziehungen abrupt ab. In den Interventionen des Jugendamtes sieht sie keine Hilfe für sich, sondern im Gegenteil Angriffe auf ihre Form der Existenz, in die sich ihr Überlebens-Ich mit den vielfachen Spaltungen in ihrer Seele eingerichtet hat. Sie wehrt sich mit allen Tricks und Mitteln, notfalls auch handgreiflich dagegen, wenn das Jugendamt versucht, ihr diese Überlebensstrategie mit dem Blick auf die Gefährdung des Kindeswohls zu durchkreuzen. Wenn sie Kinder bekommt, kann sie wahrscheinlich im Kontakt mit diesen Kindern zeitweise ihre eigenen traumatisierten Seelenanteile selbst tröstend in den Arm nehmen und sich zeitweise einen Schein von Normalität vorgaukeln. Zumindest ist sie nicht allein. Sie ist nicht wirklich Mutter für ihre Kinder, sondern sucht für ihr eigenes traumatisiertes inneres Kind eine Mutter. Daher bekommt sie auch immer wieder neue Kinder, wenn die anderen für diese Art der verdrehten Bemutterung zu alt werden und immer mehr Probleme machen. Kommt ihr eines ihrer Kinder in ihrem verletzten traumatisierten Seelenanteil zu nahe, fühlt sie sich dadurch bedroht und stößt dieses Kind dann von sich weg und wird gewalttätig.
Die Eingriffe von Jugendämtern, Sozialarbeitern und Richtern in ihre Familie haben daher nicht die erwünschte Wirkung, solange der Kern der Problematik nicht berührt wird - die seelischen Spaltungen von Frau H. Wenn man einer bindungstraumatisierten Frau das eine Kind wegnimmt und es in Obhut nimmt, bekommt sie möglicherweise schnell ein neues, weil ihr emotional abgestumpftes Überlebens-Ich sich seiner Verantwortung für Kinder nicht bewusst ist. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist bei Menschen mit frühkindlichen Bindungstrauma-Erfahrungen aufgrund ihrer vielfachen Spaltungen und der Angst vor dem, was dann in der Seele hochkommt, wenn sie sich damit befassen,massiv eingeschränkt. Wer also von außen versucht, in ein familiäres Milieu einzugreifen, das schon seit Generationen durch Gewalt, Missbrauch, Inzest, Drogenkonsum etc. geprägt ist, tut gut daran, sich bewusst zu machen, dass er damit in ein nur durch Spaltungen funktionsfähig gehaltenes Überlebenssystem der beteiligten Personen eingreift. Das Zentrum in diesem verstrickten Beziehungschaos bilden oft die Mütter, die immer wieder bindungstraumatisierte Männer mit Täterstrukturen anziehen. Auch die Kinder werden notgedrungen Teil dieses Systems. Sie können sich in ihrer emotionalen Abhängigkeit von ihren Eltern dem Sog der mit Liebe vermischten Gewalt nicht entziehen und bilden relativ schnell Opferhaltungen und Täterenergien in sich aus. Für jeden, der hier interveniert, kontrollieren, Grenzen setzen oder unterstützen will, besteht die Gefahr, in diese gespaltenen Persönlichkeitssysteme der beteiligten Menschen hinein verstrickt zu werden.
[…]
Bei nicht wenigen Frauen gibt es die Vorstellung, mit ihrer Liebe einen Mann retten zu können, der mit seinen Alkoholabstürzen, seiner Gewalttätigkeit oder seinem übergriffigen Verhalten den Kindern gegenüber immer wieder deutlich zeigt, wie seelisch gespalten er tatsächlich ist. Warum? Weil sie selbst diesen ewig liebesbedürftigen Anteil in sich haben, der für die Aussicht auf ein wenig Zuneigung von seiner Mutter oder seinem Vater selbst Gewalt und Missbrauch in Kauf nimmt und die Illusion nicht aufgeben will, dass man durch aufopferungsbereite Liebe alles erreichen kann. Weil sie ihre eigene Traumatisierung nicht wahrnehmen wollen, bleiben sie auch blind gegenüber der Traumatisierung ihres Partners. In der psychologischen Fachliteratur hat sich für dieses Verhalten der Begriff »Coabhängigkeit« geprägt.